Sinnliches Erwachen
verdient haben wirst.“
Wie recht sie da hatte, auch wenn sie nicht dasselbe meinte wie er. „Ich weiß.“
„Ich werde jeden Tag darum beten, dass sie dir jemand wieder abnimmt.“
Und ich werde jeden Tag beten, dass du einen Weg findest, mir zu verzeihen, was auch immer ich in deinen Augen Furchtbares getan habe. „Ich werde ein neues Leben beginnen, Mutter.“
Ihre Nasenflügel bebten, als sie scharf Luft holte. „Ach ja? Schön für dich. Ich hoffe, es bringt dich um.“
„Du gehörst nicht zu diesem Leben.“
Da verzogen sich ihre Lippen zu einem bösartigen Grinsen. „Hast du also endlich beschlossen, mich umzubringen, ja? Na sieh mal einer an. Wird auch langsam Zeit. Dafür werden sie dich aus dem Himmel verstoßen. Du wirst entehrt sein, erniedrigt, von allen vergessen. Für den Rest deines Lebens werden Dämonen Jagd auf dich machen, aber du wirst nicht die Kraft besitzen, sie aufzuhalten. Du wirst leiden, und letzten Endes wirst du sterben. Du wirst bis in alle Ewigkeit in der Hölle schmoren – da, wo du hingehörst.“
So viel Hass, dachte er. Wie ein lebendes Wesen in ihr, das sie überallhin begleitete, mit ihr aß und schlief. Vermutlich sogar mit ihr sprach. Nie war sie ohne ihren treuen Begleiter. Und würde es auch niemals sein, solange sie ihn an ihrer Brust nährte. Er schadete ihr, nicht Koldo – genau wie sein eigener Hass Koldo geschadet hatte, nicht ihr.
Nicola hatte recht. Er war ein Gefangener gewesen.
Doch jetzt würde er sich befreien.
Er zog einen Dolch aus der Luftfalte an seiner Seite und streckte den Arm aus. Stoisch hob sie das Kinn, wartend, bereit. Doch statt ihr die Kehle durchzuschneiden, wie sie es erwartete, rammte er die Klinge in eine der Fesseln an ihren Handgelenken.
„W-was machst du da?“
„Mich um deine Befreiung kümmern. Den Schlüssel für deine Ketten hab ich in den tiefsten Ozean geworfen.“ Verbissen musste er das Metall bearbeiten, den Dolch mühsam durch den Schließzylinder bohren, doch schließlich brach es entzwei. Dasselbe machte er mit der anderen Handfessel, dann wandte er sich ihren Knöcheln zu.
„Warum tust du das?“, herrschte sie ihn an.
„Spielt das eine Rolle?“
Eine angespannte Pause, während ihre Verwirrung sich genauso dicht um sie legte wie der Sprühnebel des Wasserfalls. „Das ändert gar nichts.“
„Das weiß ich auch“, entgegnete er.
Sobald die letzte Fessel fiel, stieß sie ihn von sich. Sie war zu geschwächt, um viel Druck dahinterzusetzen, deshalb trat er von allein zurück. Misstrauisch behielt sie ihn im Blick, als rechnete sie mit einem Trick, und humpelte zu der Klippe am Ausgang der Höhle. Sie breitete die Flügel aus.
Die Bewegung musste schmerzen, denn sie verzog das Gesicht. „Wenn ich wieder bei Kräften bin, kriege ich dich.“
„Ich werde bereit sein. Aber wenn du versuchst, mir wehzutun, indem du dem Mädchen schadest, werde ich dich umbringen. Auf keinen Fall gebe ich dir eine weitere Gelegenheit, auf sie loszugehen.“
„Als würde ich eine Unschuldige verletzen.“ Und dann sprang sie von der Klippe und schoss hinab, hinab, hinab. Er war sich nicht sicher, ob sie die Kraft hatte, sich zu fangen, bis er sie im nächsten Augenblick aufsteigen sah. Ihr Flug war steif, schleppend, doch sie hielt sich in der Luft.
Und so war es vollbracht. Vorbei.
Stumm wartete er darauf, dass ihn die Reue überkäme. Doch alles, was er empfand, war … Frieden. Herrlicher Frieden. Er hatte das Richtige getan. Jetzt lag es nicht mehr in seiner Hand. Er hatte der Versuchung den Rücken gekehrt.
Und nun zu seiner Belohnung.
30. KAPITEL
Koldos Verwandlung verwirrte, begeisterte und elektrisierte Nicola.
Erst vor einer halben Stunde war er bei Annabelle eingetroffen, um Nicola „auf ein Date“ abzuholen. Er hatte ihr ein rosa Engelsgewand überreicht und gewartet, während sie sich umzog.
Vor ihrem Abschied hatte Nicola noch nach Laila gesehen, die aus ihrer Ohnmacht aufgewacht war und sich ihrer Schwester schluchzend an den Hals geworfen hatte. Nach einer Weile hatte sie sich beruhigt und hoch und heilig versprochen, sich alles anzuhören, was Nicola über Gut und Böse, Freude und Angst zu sagen hatte – am nächsten Morgen. Vorher hatte sie sich eine Nacht für sich erbeten, um sich zu entspannen. Um zu vergessen, wenigstens für eine Weile.
Dankbar für den Sinneswandel hatte Nicola sich einverstanden erklärt und Koldo gestattet, sie in seine Arme zu ziehen und mit fortzunehmen.
Und hier
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