Sinnliches Erwachen
verlangen ein Opfer, und wir werden unsere Traditionen aufrechterhalten“, entgegnete Benedictus streng. „Willst du trotzdem fortfahren?“
Über die Antwort musste er gar nicht erst nachdenken. „Ja.“
Es entstand eine Pause, als die Ratsmitglieder einander ansahen. Alle zugleich nickten sie.
„Wir könnten von dir verlangen, dich von der Menschenfrau fernzuhalten; Nicola“, warnte ihn Katherina.
Ihm drehte sich der Magen um. Nein. Nicht das. Alles, nur nicht das.
„Doch das werden wir nicht“, fuhr sie fort, und erleichtert atmete er auf. „Wir werden dir deine Flügel nehmen. Lass sie hier. Dann darfst du zu Clericis Tempel gehen, wo man dich auspeitschen wird. Danach wird er dich zu den Toren des Flusses eskortieren. Erklärst du dich einverstanden?“
Vor seinem inneren Auge blitzte Nicolas tränenüberströmtes Gesicht auf. „Ja“, sagte er.
32. KAPITEL
Hinter ihm stand Kafziel, einen Dolch in der Hand.
Koldo saß vornübergebeugt auf einem Hocker und klammerte sich mit den Händen an einer Tischkante fest.
„Du bist ein tapferer Mann, Koldo“, sagte das siebte Ratsmitglied. Und dann, wie Koldos Mutter es vor so vielen Jahrhunderten getan hatte, begann er mit dem qualvollen Prozess, die Flügel aus seinen Muskeln zu lösen.
Metall durchtrennte Fleisch. Warmes Blut tropfte. Schmerz durchzuckte Koldos gesamten Körper. Doch er biss die Zähne zusammen und ließ es stoisch über sich ergehen. Ein Leben lang war er ohne Flügel ausgekommen. Er würde es auch wieder schaffen. Aber er betrauerte die Tatsache, dass er Nicola niemals wieder durch die Luft würde tragen können. Niemals wieder würde er an der Seite eines seiner Mitsoldaten fliegen. Von Neuem würde er eine Absonderlichkeit unter seinem Volk darstellen.
Lieber eine Absonderlichkeit mit Liebe als „normal“ ohne sie.
Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie der erste Flügel auf den Boden gelegt wurde, die herrlichen Federn blutgetränkt, die Muskeln und Sehnen nichts als rohes Fleisch.
„Und jetzt der andere“, verkündete Kafziel.
Koldo konzentrierte sich auf seine Gedanken an Nicola. Ihr wunderschönes lächelndes Gesicht. Ihre funkelnden stürmischen Augen. Wie sie ihn umarmte, überglücklich. Wie sie ihn küsste, voller Dankbarkeit.
Das ist es wert.
Es dauerte nicht lang, bis der zweite Flügel sich zum ersten auf den Boden gesellte und man Koldo aufhalf. Ihm zitterten die Knie, und die Überreste seines Rückens rissen und zerrten und schmerzten und brannten – ein Rücken, der als Nächstes ausgepeitscht würde.
„Möglicherweise verschmäht die Menschenfrau dieses Geschenk“, warnte Isabella ihn traurig. „Sie könnte das Wasser verweigern, sich gegen seine Wirkung wehren.“
Das war ihm bewusst, doch er konnte seine Entscheidung nicht bereuen. Er würde Laila eine Chance schenken. Mehr konnte er nicht tun. Aber niemals würde er zurückblicken und sich fragen müssen, was wohl geschehen wäre, hätte er es nur versucht.
„Und trotzdem gebe ich jetzt nicht auf“, beharrte er.
„Dann begib dich nun zu Clerici“, befahl Adeodatus und nickte ihm zu.
„Mögest du gesegnet sein, Koldo“, sagten die Ratsmitglieder einstimmig.
Mit der wenigen Kraft, die ihm noch blieb, teleportierte Koldo sich zum Flusstor vor Clericis Tempel. Schon begann sich sein Blick zu trüben. Doch diesen Ort kannte er auswendig. Hier gab es kein Gras, nur nackte Erde. Keine Bäume, keine Blumen. Nur noch mehr Erdboden und einen breiten Stumpf, an dem man ihn für die Auspeitschung fesseln würde. Vor ihm erhob sich ein eisernes Tor, das er bald durchschreiten würde – wenn er dann noch laufen konnte.
Er hatte eine Wache erwartet, die Peitsche in der Hand, doch es war Clerici, der ihm zur Begrüßung entgegentrat.
„Hallo Koldo.“
Direkt vor dem Stumpf brach er in die Knie und fiel hart zu Boden. Sein Atem ging schwer und unregelmäßig, doch er konnte den Duft von Zimt und Vanille ausmachen – eine Mischung, die von seiner eigenen Haut aufstieg. Genau wie er Nicola gezeichnet hatte, hatte auch sie ihn gezeichnet.
„Ich bin erfreut über dich, Koldo. Du hast das Wohlergehen eines anderen überdein eigenes gestellt.“ Clerici trat zu ihm. „Du hast keine Ahnung, wie das enden wird, und trotzdem bringst du dieses Opfer.“
Koldo schloss die Augen und sagte kein Wort, stellte keine einzige Frage.
„Was du hier tust, ist ein wahrer Ausdruck von Liebe“, fuhr Clerici fort, „und dafür lobe ich dich.“
Hör endlich
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