Sinnliches Erwachen
„Du kannst diese Krankheit besiegen.“
Ein schwächliches Lachen entrang sich Lailas Brust. „Immer die Starke … und zugleich die Empfindsame. Ich will nicht, dass du später auf diesen Moment zurückblickst und dir die Schuld dafür gibst. Du hast alles in deiner Macht Stehende getan. Ich wollte einfach nicht hören. Und ich will nicht, dass du Angst hast. Ich habe keine. Nicht mehr.“
„Ich hab auch keine Angst.“ Ich bin nur am Boden zerstört. „Du wirst wieder gesund. Koldo ist losgezogen, um dir ein spezielles Wasser zu beschaffen. Das hat dir schon einmal geholfen, und …“
„Nein, Liebes, ich bin jetzt bereit. Ich schwebe schon seit einer Weile zwischen der natürlichen und der spirituellen Welt, und ich hab ein paar Dinge mit dem Höchsten geklärt. Er ist wirklich wundervoll, weißt du. Ich hab Ihn um eine Gelegenheit gebeten, mich von dir zu verabschieden, und Er hat sie mir gewährt.“
„Nicht verabschieden. Ich will, dass du bleibst“, wisperte Nicola gebrochen.
„Ich weiß, dass du das willst, aber diese Angst … Sie war grauenvoll, und ich habe zugelassen, dass sie mich zerstört. Jetzt gehe ich wenigstens an einen besseren Ort, und eines Tages werden wir wieder zusammen sein. Aber erst mal hast du ein Leben vor dir. Die Dinge, die du andere lehren wirst … Sieh dir nur mal an, was du allein für Koldo schon getan hast.“
„Laila …“
„Ich liebe dich, Co-Co.“ So leise ausgesprochen.
„Tu das nicht. Bitte.“
„Es ist längst geschehen.“
Da begriff Nicola, dass sie ihre Schwester nicht mehr von ihrem Weg würde abbringen können. Die Tränen flossen über, rannen ihr über die Wangen, brannten auf ihrer Haut. Sie streckte den Arm aus, ergriff die zerbrechliche Hand ihrer Schwester und verschränkte die Finger mit ihr.
„Ich liebe dich auch, La-La.“
Laila lächelte noch einmal – und tat ihren letzten Atemzug.
Nicola schritt durch die Straßen ihrer Kindheit, gefangen in einer betäubenden Umnebelung. Auf ihre Bitte hin hatten ihre Leibwächter sie hierhergebracht und folgten ihr nun in diskretem Abstand. Sie konnte nicht aufhören, daran zu denken, wie der Kopf ihrer Schwester zur Seite gesackt war, wie das Funkeln in ihrem Blick erloschen war und ihre Augen glasig und trüb zurückgelassen hatte. Maschinen hatten wie verrückt gepiepst, und Krankenschwestern waren ins Zimmer gestürmt. Doch dieses Mal hatten sie nicht versucht, das Mädchen zu retten. Sie hatten gewusst, dass sie es nicht schaffen würden.
Stumm hatten sie die Maschinen abgestellt, Nicola die Schulter getätschelt und sie allein gelassen.
Stille hatte sie eingehüllt. So schwere, erdrückende Stille. Sie hatte einfach nur dasitzen können, während ihr ununterbrochen die Tränen übers Gesicht gelaufen waren.
Wie sollte sie jetzt weitermachen?
Als sie schließlich das Haus erreichte, in dem sie aufgewachsen waren, bebte sie am ganzen Leib. Das Haus, in dem sie gelacht und geredet und gespielt hatten. Das Haus, in dem sie Robby aus seinen Bilderbüchern vorgelesen hatten.
Es lag im historischen Stadtkern und war mit gelbem Stuck verziert, unter dem roter Backstein hervorblitzte. Im Vorgarten standen Sträucher und Blumen und leuchtend grünes Gras, dazwischen führte ein Betonweg bis zur umlaufenden Veranda.
Das Krankenhaus verblasste in ihren Gedanken, verdrängt von einer Vision von Laila, wie sie aus dem Fenster spähte und ungeduldig auf Nicolas Rückkehr von einem Arztbesuch wartete. Sobald sie aus dem Auto gestiegen war, hatte ihre Schwester ihr durch die Scheibe zugelächelt, erleichtert, dass sie wieder zusammen waren.
Wieder zusammen. Etwas, das sie nicht mehr haben konnten, solange Nicola hier unten war.
Nicola brach in die Knie. Trauer durchfuhr sie plötzlich wie eine Rasierklinge, schnitt sie entzwei, machte die Betäubung zunichte. So lange war Laila ihre einzige Gefährtin gewesen. Laila war die Einzige, die all die Tragödien in ihrem Leben miterlebt hatte. Laila hatte mit ihr geweint und mit ihr getrauert und mit ihr gelitten und mitgeholfen, sie wieder aufzubauen, wenn sie am Boden gewesen war.
Und jetzt … jetzt …
„Ich brauche etwas Zeit für mich“, wandte Nicola sich mit erstickter Stimme an ihre Leibwächter. „Bitte.“
Es verging ein Moment, während sie diskutierten, doch zu guter Letzt gingen sie fort und bogen am Ende der Straße um die Ecke.
Von Neuem traten ihr die Tränen in die Augen und rannen ihr über die Wangen, eine um die andere,
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