Sinnliches Erwachen
schneller und schneller, bis sie schluchzte und unkontrollierbar zitterte, während Kummer und Verzweiflung sich in ihr erhoben, sie verzehrten. Hell schien die Sonne auf sie herab, doch sie spürte ihre Strahlen nicht. Ihr war kalt bis ins Innerste. So kalt.
Ihre Schwester war ein Teil von ihr. Nie hatte es eine Nicola ohne Laila gegeben.
Ihr Schluchzen wurde stärker, bis sie sich krümmte und würgte. Hätte sie etwas im Magen gehabt, sie hätte sich mitten in der Einfahrt übergeben. Doch das hatte sie nicht, und so konnte sie nur würgen und keuchen und sich erinnern und verzweifeln. Die neuen Eigentümer und ihre Nachbarn mussten auf der Arbeit sein, denn niemand kam nach draußen, um nach ihr zu sehen. Sie war froh darüber.
Doch irgendwann wurde sie allmählich ruhiger. Sie blieb, wo sie war, zusammengekrümmt auf dem Beton, die Stirn in die Hände gelegt, die Augen geschwollen und die Nase verstopft. Der Tod ist nicht das Ende, rief sie sich in Erinnerung. Das Grab würde niemals gewinnen. Sie würde ihre Schwester wiedersehen. Garantiert.
Aber ein Gedanke wuchs in ihr heran und weigerte sich, sie zu verlassen. Es hatte nicht zwangsläufig so enden müssen. Dämonen hatten ihre Schwester vergiftet, ja, aber Laila hatte sich auch nicht dagegen gewehrt.
Wie viele Familien waren von einer ähnlichen Situation betroffen gewesen und hatten nichts davon geahnt? Wie viele hatten akzeptiert, was sie für natürlich und unausweichlich gehalten hatten, ohne zu erfahren, dass es einen anderen Weg gab?
Zu viele.
Das musste sie ändern. Sie konnte nicht zulassen, dass noch eine Schwester so endete wie sie, auf allen vieren auf dem tränennassen Boden. Oder eine Mutter. Ein Vater. Ein Freund. Koldo hatte sie zu kämpfen gelehrt, und jetzt würde sie es anderen beibringen.
Aus ihrem Schmerz heraus würde sie ihre Bestimmung finden.
Ja. Es herrschte Krieg.
Der erste Funken Hoffnung regte sich in ihrer Brust, und sie richtete sich auf. Die Helligkeit zwang sie, zu blinzeln. Und dann … dann begann ihr Herz in einem wilden, verkehrten Rhythmus zu hämmern, als wäre es soeben irreparabel überlastet worden. Schmerz strahlte in ihren linken Arm aus, als hätte sie wieder einen Herzanfall.
Sterbe ich? dachte sie.
Das war’s. Das ist das Ende. Deine Schwester ist fort, und ohne sie kannst du nicht weiterleben.
Nein. Nein, das konnte nicht stimmen.
Doch Furcht verschlang jeden Funken Hoffnung, und die Schmerzen wurden schlimmer.
Vollkommen allein. Niemand, der dir hilft.
Nein! Diese Gedanken konnten nicht ihre eigenen sein. Sie widersprachen allem, was ihr soeben klar geworden war. Woher also konnten …
Dämonen, begriff sie. Sie konnte sie nicht sehen, aber irgendwelche Dämonen mussten ihre Verzweiflung gespürt haben und sofort herbeigestürzt sein, um sie zu vergiften und sich an ihr gütlich zu tun. Tja, das würde sie ihnen nicht gestatten.
„Ich weiß, dass ihr mich anlügt. Ich weiß, dass es mir gut geht.“ Schon während sie es aussprach, kehrte ihr Herz zu seinem normalen Rhythmus zurück. „Nie wieder werde ich mich solchen wie euch beugen.“
Zwei finster dreinblickende Dämonen erschienen direkt vor ihr und falteten die knorrigen Flügel auf den Rücken. Sie erkannte sie wieder – einer war ihr in der Tiefgarage vors Auto gesprungen, und beide hatten sie gemeinsam mit Koldos Vater angegriffen. Einem wuchs ein Horn aus dem Schädel, und am ganzen Leib war er mit Fell überzogen. Der andere hatte ein Horn auf der Stirn und Schuppen anstelle von Haut. Ihre Augen waren schwarz, abgrundtief böse, passend zu ihrem durchdringenden Gestank.
Sie stand auf und verkündete: „Ihr macht mir keine Angst.“
„Sollten wir aber. Auf diesen Tag haben wir schon lange gewartet. Auf genau diesen Moment.“
„Wo sind denn deine Freunde, hä?“, fragte der andere. „Scheinen dich im Stich gelassen zu haben.“
„Dann trügt der Schein.“ Sie hob das Kinn. „Ich habe immer Hilfe. Und davon abgesehen: Ihr könnt mir nichts tun, ob sie nun hier sind oder nicht.“
Beide zugleich begannen sie zu grinsen und entblößten scharfe Fangzähne.
„Wir begleiten dich schon sehr lange, Nicola. Wir kennen deine Schwachpunkte.“
„Du brauchst uns.“ Ein heiseres, verführerisches Flüstern. „Und wenn’s nur ist, um andere Dämonen auf Abstand zu halten.“
Einen Schritt, dann zwei, kamen sie auf Nicola zu. Sie blieb, wo sie war. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie womöglich Entsetzen verspürt.
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