Sintflut (German Edition)
Papier ab. Es war nur leicht festgeklebt und tatsächlich, dahinter war ein Zettel versteckt. Ich faltete ihn auseinander.
Liebe Marlene,
ich bin in Schwierigkeiten und muss mich verstecken. Bitte geh mit der Eintrittskarte unter meinem Namen zu dem Kongress. Es ist sehr wichtig. Nicht nur für mich, sondern für die ganze Welt.
Du hast etwa vier Wochen Zeit, wenn der Brief bei dir ankommt. In dieser Zeit bereitest du dich vor. Keine Sorge, du kannst das schon. Wozu haben wir dich denn sonst zur Polizei gelassen? Bitte mach es. Deine Paula
P.S. Hole auch meine E-Mails ab und bring sie ausgedruckt mit. Ich kann nicht aus dem Haus und habe hier keinen Anschluss. Das Passwort für mein Mailkonto heißt so, wie unsere Eltern mich nennen wollten, bevor Tante Paula ihnen das Regensburger Grundstück vermachte.
P.P.S. Wir treffen uns nach dem Kongress, dann erkläre ich dir alles. Ein Freund von mir wird sich in Bukarest mit dir treffen und dich zu mir bringen.
Es ist immer dasselbe Spiel: Paula will was von mir und appelliert an meinen Familiensinn, dann spielt sie die Sache mit ein paar flapsigen Bemerkungen herunter. Als ob ich dankbar sein muss, überhaupt mitmachen zu dürfen. Paula unterstellt mir immer, dass ich mich langweile und alles, was ich tue, nur Beschäftigungstherapie ist. Bloß, weil sie berufstätig ist und ich nicht mehr. Als ob das alles ist, worauf es im Leben ankommt.
Ich soll ihr beistehen, und natürlich ist es wichtig. Das ist es ja immer. Wichtig für sie, wichtig für die Menschheit, darunter macht sie es nicht. Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen? Auf gar keinen Fall. Aber insgeheim bin ich es doch. Verrückt.
Rein optisch ist es für mich kein Problem, mich als meine Schwester auszugeben. Wir sehen uns sehr ähnlich und wer uns nicht genauer kennt, kann uns verwechseln. Früher mehr als heute, aber es geht noch. Ich muss nur ein wenig nachhelfen. Meine Schwester färbt sich das Haar rot, ich lasse es grau werden. Wir sind mittelgroß, haben grüne Augen, Sommersprossen, dichtes, früher mal kastanienbraunes, gewelltes Haar. Sie ist muskulös, weil sie oft monatelang unter Entbehrungen lebt und hart arbeitet. Ich bin auch muskulös, aber nicht mehr so mager. Im Gesicht ist unsere Ähnlichkeit am größten. Paula ist fünf Jahre jünger als ich, aber sie altert schneller. Sie muss sich mit Behörden herumärgern und nächtelang arbeiten, während ich ein ruhiges Leben führe. Wenn sie so weiter macht, hat sie mich faltenmäßig bald eingeholt.
Ein Handy hat sie nicht mit, sonst würde ich sie jetzt anrufen. »Was soll eine Archäologin mit einem Mobiltelefon?«, fragte mich Paula, bevor sie sich auf den Weg machte. Also nahm sie nur ihr Notebook mit und verließ sich darauf, überall E-Mails verschicken und abholen zu können. Obwohl in einigen Gegenden Rumäniens die Häuser noch aus Lehmziegeln gebaut werden, war ihr das bis jetzt auch immer gelungen.
Paula ist in Rumänien, um die Hamangia-Kultur zu erforschen. Die wenigen Überbleibsel dieser Zeit sind ungefähr 7000 Jahre alt. Seit Paula Archäologin ist, interessiert sie sich nur für eines: Was tat die Menschheit nach der letzten Eiszeit (11000 vor Christus) bis zum Bau der Pyramiden? Es gibt unzählige Fundstücke, aber nichts Schriftliches. Und es gibt ein feindseliges akademisches Establishment. Für die meisten ihrer Kollegen sind Kult und Magie die Zauberworte zum richtigen Verständnis der Vorgeschichte, Paula hingegen hält die Menschen der Jungsteinzeit für im Wesentlichen rational handelnde, vernunftbegabte Wesen.
Im Gegensatz zu mir hat Paula den Beruf ihres Lebens gefunden. Sie hat Archäologie studiert und ist Archäologin geworden. Sie darf ihren Grips für die gute Sache einsetzen. Das wollte ich auch mal. Früher war ich Marlene Adler, Sonderdezernat für organisierte Kriminalität, Frankfurt. Das klingt sauber, ist aber Dreck pur. Ist Mafia. Ist Abschaum vom Abschaum. Irgendwann färbt das ab. Dazu die dauernden Misserfolge, wenn man wirklich bis ganz nach oben durchermitteln will. Ich habe herumgepfuscht und Mist gebaut, musste dann aufgeben. Immer wieder nagt das an mir und ich spüre: Da sind noch Rechnungen offen. So was zermürbt einen, an schlechten Tagen, aber das will ich gar nicht an die große Glocke hängen. Fürs Protokoll gilt: Es soll mir bloß niemand dumm kommen. Ich habe für meine Fehler bezahlt. Und noch etwas: Eine Frau Mitte 40 hat entweder ein robustes Selbstbewusstsein,
Weitere Kostenlose Bücher