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Sintflut (German Edition)

Sintflut (German Edition)

Titel: Sintflut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gina Schulze
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meinem Fall am besten Elefantengras.
    Und was meine jüngere Schwester Paula betrifft: Sie hat mir meine Fehler gnädig verziehen und deshalb darf ich für sie manchmal so eine Art persönlichen Sicherheitsdienst spielen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie mich um so was bittet, und natürlich darf es keinen Cent kosten, Familie eben.
     
    Wir stammen aus nordhessischen der Provinz, aus einem Tal zwischen Westerwald und Rothaargebirge. Die nächste Stadt heißt Dillenburg. Es ist eine alte Arbeitergegend. Eisenerz, Stahlwerke, Kesselbau, früher mehr als heute. Immer wieder Firmenschließungen in den vergangenen Jahren, viel Schwarzarbeit, viel Nachbarschaftshilfe. Man unterstützt sich gegenseitig, aber die kleinen Zauberworte der modernen Zivilisation sind tabu: danke , bitte und gut gemacht . Das gilt besonders für die Familie. Und wenn Vater und Sohn oder Bruder und Schwester im Fernsehen »ich liebe dich« zueinander sagen, reagiert der Zuschauer aus unserer Gegend gereizt. »Was soll der Quatsch«, nölt er verständnislos vor sich hin. Fühlt er sich wohl, sagt er achselzuckend »es geht so«. Schmeckt ihm sein Mittagessen, murmelt er – und zwar grundsätzlich nur auf Nachfrage: »Kann man essen.« Paula und ich haben schon als Kinder beschlossen, der Heimat den Rücken zu kehren, unseren Horizont und das Vokabular zu erweitern. Von der Sprache und den Manieren her können wir inzwischen überall mithalten. Aber einiges kann man nicht einfach ablegen. Familie zum Beispiel, was auch immer sie von einem verlangen mag.
     
    Auf der Briefmarke von Paulas Brief stand Romania , der Poststempel sagte Bucuresti , die Schrift auf dem Umschlag war mir unbekannt. Sie hatte mir die Einladung von einem Dritten schicken lassen. Das Spätquartär im östlichen Mittelmeer, XII. außerordentliche Fachtagung zur Vorgeschichte Europas war darauf zu lesen. Mir sagte das wenig, aber ich bin ja auch keine Archäologin. Für Paula wäre es interessant gewesen. Vielleicht war sie verhindert und wollte nun die Einladung für ihre Steuererklärung aufheben. Wenn sie etwas so verwahren möchte, dass sie es wiederfindet, gibt sie es mir, denn sie ist schusselig wie alle Leute, die Wichtigeres zu tun haben. Und ich, ich bin die Ordnung selbst. Aber erst, seit ich keine Polizistin mehr bin.
     
    Wenn Paula mir die Einladung also hat schicken lassen, wieso schrieb sie dann keine Zeile dazu? Keinen Gruß, kein Lebenszeichen? Sah ganz nach einem Rückfall in alte Zeiten aus, obwohl ich mir das nicht vorstellen konnte. Paula hasste das Ungehobelte unserer Kinderstube genauso wie ich, trotzdem bekam ich so ein wortkarges Schreiben von ihr. Da musste mehr dahinterstecken, aber was? Der Umschlag enthielt noch eine Wegbeschreibung zum Hotel, in dem der Kongress stattfand, einen Zeitplan und ein weißes Blatt Papier, auf dem ein Polaroidfoto klebte. Es zeigte eine kleine schwarze Figur, die im Schneidersitz auf einem Sockel saß und eine Hand hinter das Ohr hielt. So wie jemand, der angestrengt lauscht. Im Hintergrund sah man Tannen und saftige Wiesen in einer hügeligen Landschaft. Rechts im Bild stand eine Holzwand, daneben eine Birke. Das Bild konnte nur von Paula stammen, denn wer macht heute schon noch Polaroids? Da gibt es die tollsten Digitalkameras, aber Paula will nichts davon wissen.
     
    »Brauch ich nicht«, hatte sie gesagt, als ich sie von einer Digicam zu überzeugen versuchte: alles sofort erfassen, im Notebook aufbewahren und von dort in alle Welt verschicken. Aber Paula winkte ab. »Und was ist, wenn das Ding verrückt spielt? Irgendwo da draußen, wo niemand es reparieren kann?« Dabei konnte ihre Polaroidkamera genauso den Geist aufgeben, nur glaubte Paula das nicht. Seit vielen Jahren ist das Gerät ihr treuester Begleiter, warum sollte es jemals kaputt gehen? »Und außerdem«, hatte sie angefügt, »ist jedes Polaroid ein Unikat. Du kannst es nicht verändern. Es ist so, wie es ist. Und damit fühle ich mich der Wahrheit viel näher als mit diesem ganzen Pixelzeug.«
    In Erinnerung an dieses Gespräch fiel mir ein, wie wir uns als kleine Mädchen immer Geheimbotschaften zuspielten. Mir hatte es vor allem Spaß gemacht, aber für Paula war es eine ernste Sache gewesen. Sie liebte es, Geheimnisse zu haben und fürchtete deren Entdeckung, auf diesem Trip ist sie immer noch. Sie neigt zur Paranoia, obwohl sie von der Welt des Verbrechens so viel Ahnung hat wie ich von Archäologie. Vorsichtig löste ich also das Foto von dem

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