Sintflut (German Edition)
jetzt … sie hat mir ein Foto von einer Figur geschickt und da dachte ich, Sie könnten vielleicht …« Ich mache ihm klar, wie sehr ich ihn brauche, weil er doch ein Experte ist. Was Paula von mir will, sage ich nicht.
Längeres Schweigen am anderen Ende. »Aber äh, gerne, Frau Adler.« Wieder Schweigen. Dann klingt die Stimme konzentrierter. »Sie wohnen doch auch in Erlangen, nicht wahr? Paula erwähnte das mal. Kommen sie doch einfach bei mir vorbei.«
»Heute noch?«, frage ich, bevor er sich das anders überlegt. Er zögert noch einen Moment, dann sagt er zu. Wir vereinbaren einen Termin am Nachmittag. Und nein, ich werde nicht mit dem Rad hinfahren, obwohl es eine Gelegenheit wäre, sich zu quälen und Statur zu zeigen. Alle in Erlangen fahren Rad, bei jedem Wetter, zu jeder Gelegenheit und nachts oft ohne Licht. Es gibt ein wirklich gut durchdachtes Radwegenetz, auf dem man ohne viel absteigen durch die Stadt und weit darüber hinaus fahren kann. Für die Radwege haben wir sogar mal einen Preis bekommen und die ewigen Freiburger ökomäßig auf den zweiten Platz verwiesen.
Martin Fleischmann wohnt im Osten Erlangens, in Buckenhof, Max und ich leben am anderen Ende der Stadt. »Ich fahre mal eben schnell nach Buckenhof« – diesen Satz wird man von einem West-Erlanger nicht hören, auch von mir nicht. Ich nehme zuerst die Dechsendorfer Brücke, dann den Frankenschnellweg, dann die Werner-von-Siemensstraße. Die Werner-von-Siemenstraße verhält sich zum restlichen Erlangen wie Schnaps und Pralinen zu einem Treffen der Weight Watchers. Keine andere Straße hat so breite Bürgersteige, hat Bäume nicht nur links und rechts, sondern und auch noch in der Mitte. Linker Hand kommt die alte Siemenszentrale in den Blick, der sogenannte Himbeerpalast, weil er früher dunkelrosa verputzt war. Dann endet die Pracht ganz unvermittelt, und wer weiterfahren will, muss in die einspurige Henkestraße abbiegen. Dort stehen heute wie zum Trost ein paar Baukräne der Firma Mauss. Prima, denke ich, die Werner-von-Siemensstraße wird endlich fertig gebaut, aber das soll nur ein Witz sein.
Der Verkehr wird dichter, ich erreiche die Drausnickstraße mit ihren Imbissbuden, Spielhallen, Drogeriemärkten, Discountern und tristen Mietshäusern. Durch die Drausnickstraße muss man auf dem Weg nach Buckenhof, Uttenreuth, Dormitz oder Neunkirchen, das geht gar nicht anders. ›Südumgehung jetzt‹, ›22000 Fahrzeuge pro Tag‹, ›Wir sterben für euch‹, steht deshalb auf den Bettlaken, die aus den Fenstern der Anwohner hängen. Sie kämpfen für eine Umgehungsstraße, aber ohne Erfolg, denn andere kämpfen dagegen.
Die Südumgehung, so wie sie geplant ist, würde nämlich mitten durch einen Wald führen, an dessen Rändern Familien mit Kindern und auch Martin Fleischmann leben. Der Frieden ihrer Häuser gegen den Frieden der Drausnickstraße: Seit über acht Jahren werben Flugblätter, Inserate, Zeitungsartikel für oder gegen die Südumgehung, fliegen im Stadtrat die Fetzen, finden öffentliche Anhörungen, Bürgerbefragungen und Nachbarschaftstreffen statt. Es ist eine Art Erlanger Naturgesetz: plant die Stadt was Neues, finden sich garantiert welche, die dagegen sind. Die organisieren sich, sammeln Unterschriften, erzwingen ein Bürgerbegehren. Das ersparte dem Theaterplatz eine Tiefgarage, den Regnitzwiesen einen Autobahnzubringer, dem Erlanger Osten die Südumgehung. Es gibt Gewinner und Verlierer, aber man hat immer das Gefühl, die Erlanger machen was aus der Demokratie.
Um Punkt fünf Uhr drücke ich die Klingel von Fleischmanns Reihenhaus. Er öffnet und bittet mich rein, ein dünner Mann, etwa so groß wie ich, also um die 1.70 m. Hastig macht er die Tür hinter mir zu, als wolle er unter gar keinen Umständen länger als nötig frische Luft einatmen oder gar in die Wohnung lassen. Als er an mir vorbeigeht, rieche ich eine gewisse Nachlässigkeit bei der Körperpflege.
Ich folge ihm etwas widerstrebend ins Haus. Von hinten sieht er genauso schmächtig aus wie von vorne. Durch sein T-Shirt sehe ich zwei hängende Schulterblätter, und da, wo andere Männer einen Hintern haben, ist bei ihm Luft in der Hose. Das nennt Paula also eine wandelnde Hormonbombe. Mag ja sein, es stimmt trotzdem, aber wer so wenig für sein Äußeres tut, kann doch nicht ernsthaft hoffen, erhört zu werden. Andererseits ist Erlangen, das im Lauf seiner langen Geschichte schon vielen Menschen eine Zuflucht geboten hat, ein
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