Sintflut (German Edition)
und gehe zu seinem Schreibtisch. Auf dem Tisch liegt eine Biografie von Schliemann, den er mehr als alle anderen bewunderte. Warum ausgerechnet der umstrittene Schliemann sein Favorit ist, weiß ich nicht, ich habe nie danach gefragt.
Das Buch ist aufgeschlagen. Auf der rechten Seite ist ein Foto von Schliemanns schöner Frau Sophie. Auf der linken Seite ist mitten im Text ein Satz dick mit rotem Filzstift unterstrichen. Der Stift liegt noch da, so als hätte er die Stelle gerade erst markiert. Dabei hasst er es normalerweise, in Büchern herumzuschmieren, noch nicht mal ganz dünn mit Bleistift. Der Satz lautet:
Schliemann mochte von der Suche nach Troja besessen sein, aber er war nichts ohne Sophie. Ihr sollte es gefallen, ihr wollte er alles zu Füßen legen. Nur für sie fand er den Schatz des Priamos.
Ich brauche noch Wein. Ich hole die Flasche und setze mich in den Ledersessel. Immer wieder lese ich, was er unterstrichen hat. Es klingt wie eine Botschaft an mich, aber warum sollte Max damit gerechnet haben, dass ich jetzt hier sitze und Wellen der Erleichterung über mich hinweg ziehen, obwohl nichts, aber auch gar nichts in Ordnung ist? Egal, was Max sich dabei gedacht hat, das Buch liegt da und die Worte sagen mir was.
Was ist nur in ihm vorgegangen? Was hat er all die Jahre gemacht? Wie ist er nach Pluton gekommen? Alles Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Nichts weiß ich im Grunde. Und doch war es die ganze Zeit da. Hier in diesem Zimmer war der wahre Max, aber ich habe ihn nicht erkannt. Hielt das alles hier für eine nette Schrulle, dabei war es ihm bitterernst. Ich weiß noch, wie ich mich einmal darüber lustig gemacht habe und er tagelang beleidigt war. Nie waren wir einem echten Streit so nahe, ich erinnere mich genau daran.
Mehr Wein, noch eine Zigarette. Dann ist die Flasche leer. Ich mache noch eine auf. Ich bin betrunken, aber ich habe eine Idee und fasse einen Entschluss. Dann kriege ich eine Gänsehaut und muss lachen.
Max hätte jetzt eine Punktliste angelegt, denn er ist ein methodischer Mensch: 1. Ich bin glücklich über die Botschaft, die er mir hinterlassen hat. 2. Ich bin verletzt, denn er hat mich jahrelang belogen. 3. Ich bin fasziniert, denn er war großartig. 4. Ich bin erleichtert, denn er war mir treu. 5. Ich bin wütend, weil ich das jetzt erst erfahre. 6. Ich bin besorgt, weil er im Krankenhaus liegt. 7. Ich bin froh, weil er für eine Weile aus dem Verkehr gezogen ist.
Das nennt man wohl gemischte Gefühle. Trotzdem steht mein Entschluss fest: Jetzt bin ich am Zug. Mein Vorsprung ist groß, mein Vorteil gewaltig. Niemand weiß, was ich weiß, und niemand wird je erfahren, was Max getan hat, es sei denn, er hängt es selbst an die große Glocke. Ich werde nichts verraten, denn er ist nur ein Dieb, kein Mörder. Hans Dietzendorf wurde von einem Rumänen erschlagen, Anna von Martin erwürgt, Martin von Flavio erschossen und umgekehrt.
Ich werde herausfinden, was es herauszufinden gibt, denn ich kenne Max genau. Er führt über alles peinlich genau Buch. Irgendwo gibt es Vermerke, Pläne, Aufstellungen und Listen, aus denen hervorgeht, was wo und wie versteckt ist. Und irgendwo gibt es ein paar Goldfiguren, die ein Vermögen wert sind.
Nur ich kann sie finden und er kann nichts dagegen machen. Er liegt im Krankenhaus und kommt da so schnell nicht raus. Und was ich mit dem Schatz anfange, sobald ich ihn habe? Dazu kann ich nur sagen, was ich so ähnlich auch schon zu Birgul gesagt habe: Zuerst kommen die Grabräuber, dann die Archäologen, dann die Antiquitätenhändler. Die Grabräuber sind aus dem Weg, die Archäologin hat genug. Jetzt ist die Ex-Polizistin dran, und der Händler wird ihr dabei behilflich sein.
Epilog
Lieber Bernhard,
über deinen Besuch gestern habe ich mich sehr gefreut. Es hat mir unendlich gut getan, mit dir zu sprechen, denn du bist mein bester Freund. Leider konnte ich die Geschichte nicht zu Ende erzählen, weil Marlene hereinkam und uns nicht mehr von der Seite wich. Ich habe vor ihr keine Geheimnisse mehr, aber sie wäre dagegen, dass ich mich dir anvertraue. Sie hätte Angst, dass du es nicht für dich behalten kannst. Diese Angst habe ich nicht. Für mich ist wichtig, was du über die ganze Sache denkst. Deshalb sollst du wissen, wie es weitergeht.
Bevor Marlene hereinkam, hatte ich gerade erzählt, wie ich vor meiner Abreise die Schliemannbiografie auf meinen Schreibtisch legte. Ich wusste schon, dass
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