Sinuhe der Ägypter
sich Kaptah, packte den Türvorhang und kletterte an diesem bis über den Türpfosten empor, wo er laute Angstschreie ausstieß. Der König lachte noch lauter als zuvor und sagte: »Etwas Verrückteres habe ich noch nie gesehen.« Der Löwe ließ sich nieder und leckte sich das Maul, während Kaptah in seiner Not über der Tür hocken blieb. Der König aber erklärte: »Ich bin hungrig« – und verlangte nach Speise und Trank. Da weinte der alte Mann vor Freude, daß der Herrscher geheilt war. Man brachte dem König vielerlei Speisen auf silbernem, mit eingravierten Bildern verziertem Geschirr und Wein in goldenen Bechern, und er sprach: »Iß mit mir, Sinuhe, obwohl dies nicht mit meiner Würde vereinbar ist. Heute jedoch will ich meine Würde vergessen, nachdem du meinen Kopf in deiner Achselhöhle gehalten und mir mit deinen Fingern im Mund herumgestochert hast.«
So kam es, daß ich mit dem König speiste und trank und zu ihm sprach: »Dein Schmerz ist für den Augenblick gelindert, aber er kann jederzeit wiederkehren, wenn du nicht den Zahn, der ihn verursacht, ziehen läßt. Deshalb mußt du ihn durch deinen Zahnarzt entfernen lassen, sobald die Geschwulst in der Wange geschwunden ist. Das kann ohne jeden Schaden für deine Gesundheit geschehen.«
Des Königs Stirn verfinsterte sich, und er sagte ärgerlich: »Du sprichst schlimme Worte aus und zerstörst mir die Freude, du törichter Fremdling.« Nach kurzem Besinnen aber fügte er hinzu: »Vielleicht hast du recht. Mein Leiden tritt regelmäßig jeden Herbst und Frühling auf, wenn ich nasse Füße bekomme, und verursacht mir Schmerzen, um derentwillen ich mir den Tod herbeiwünsche. Doch wenn die Operation unumgänglich nötig ist, sollst du sie ausführen; denn meinen Zahnarzt will ich nicht mehr sehen, weil er mir soviel unnütze Qualen bereitet hat.«
Ich entgegnete: »Aus deiner Rede schließe ich, daß du als Kind mehr Wein als Milch getrunken hast. Auch bekommen die Süßigkeiten nicht gut; denn in dieser Stadt werden sie aus Dattelsirup hergestellt, der schädlich für die Zähne ist, während man sie in Ägypten aus Honig bereitet, den winzige Vögel in großen Kuchen für die Menschen sammeln. Iß daher in Zukunft nur noch Süßigkeiten aus dem Hafen, und trinke jeden Morgen beim Erwachen Milch!«
Er sagte: »Du bist wahrhaftig ein großer Spaßmacher, Sinuhe! Ich glaube nicht, daß winzige Vögel Süßigkeiten für die Menschen einsammeln. So etwas habe ich noch nie gehört.« Ich aber sagte: »Mein Los ist hart: in meiner Heimat werden die Menschen mich Lügner nennen, wenn ich ihnen erzähle, daß ich hier flügellahme Vögel gesehen habe, die bei den Menschen wohnen und diesen jeden Morgen zum Geschenk ein Ei legen. Ich tue daher am besten daran, in Zukunft überhaupt nichts mehr zu sagen, denn ich werde meinen guten Ruf verlieren, wenn man mich für einen Lügner hält.« Aber er widersprach mir eifrig: »Nein, du sollst sprechen, denn noch niemand hat so wie du zu mir gesprochen.«
Da sagte ich in ernstem Ton: »Ich werde dir den Zahn nicht ausziehen. Dein Zahnarzt soll es tun; in diesen Dingen ist er der Geschickteste im Land und sicherlich gewandter als ich. Doch kann ich, wenn du es wünschest, neben dir stehen und deine Hand halten und dir Mut zusprechen, während er die Operation ausführt. Auch will ich deinen Schmerz mit allen Mitteln, die ich in vielen Ländern und bei vielen Völkern kennengelernt habe, lindern. Dies soll vom heutigen Tag an genau in zwei Wochen geschehen. Es ist besser, den Tag im voraus zu bestimmen, damit du es nicht bereust. Bis dahin ist dein Kiefer nämlich geheilt, und inzwischen wirst du deinen Mund jeden Morgen und Abend mit einem Mittel spülen, das ich dir geben werde, wenn es auch schlecht schmeckt und brennt.«
Verärgert fragte er: »Und wenn ich es nicht tue?«
Ich antwortete: »Du sollst mir dein königliches Wort geben, daß alles, so wie ich es gesagt habe, geschehen wird. Sein königliches Wort kann der Herrscher über vier Erdteile nicht brechen. Wenn du mir gehorchst, werde ich dich mit meiner Kunst ergötzen und vor deinen Augen Wasser in Blut verwandeln und dich dieses Kunststück ebenfalls lehren, damit du deine Untertanen fn Staunen versetzen kannst. Aber du mußt mir versprechen, das Geheimnis keinem anderen zu verraten. Es ist ein heiliges Geheimnis der Ammonpriester, das auch ich nicht kennen würde, wenn ich nicht selbst geweihter Priester ersten Grades wäre, und das ich dich
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