Sinuhe der Ägypter
mehr als ein Leben, das Sinn und Zweck besitzt. Sie vertrieben sich die Nacht in gleicher Weise wie zuvor; in meine bitteren Träume drang störend das Gekreisch der Frauen, die anscheinend vor den Jünglingen in die Gebüsche flohen, während diese ihnen im Dunkeln nachliefen und nach ihren Kleidern haschten, um sie ihnen vom Leibe zu reißen. Am Morgen darauf jedoch waren sie müde und angewidert, weil sie nicht baden konnten; daher kehrten die meisten an diesem Tag in die Stadt zurück, und nur die Jüngsten und Hitzigsten blieben vor den Kupfertoren.
Am dritten Tag traten auch die letzten den Heimweg an, und ich ließ sie meine Sänfte, die immer noch auf mich wartete, mitnehmen; denn sie vermochten sich vor Erschöpfung nach dem unmäßigen Wachen und Liebesgenuß nicht mehr aufrecht zu halten und waren nicht fähig, den Heimweg zu bewältigen. Auch kam es meinen Absichten sehr gelegen, daß sie die Sänfte mitnahmen und keiner auf mich wartete. Jeden Tag hatte ich den Wächtern vor dem Haus des Gottes Wein verabreicht; sie wunderten sich daher nicht, als ich ihnen gegen Abend wieder einen vollen Krug brachte, sondern nahmen ihn erfreut an. Denn sie hatten wenig Unterhaltung in ihrer Einsamkeit, die jeweils einen Monat dauerte, bis der Festzug einen neuen Geweihten zum Haus des Gottes brachte. Wenn sie sich über etwas wunderten, so höchstens darüber, daß ich allein noch dablieb, um auf Minea zu warten, was noch nie vorgekommen war. Aber ich war wohl in ihren Augen ein einfältiger Fremdling. Sie tranken daher meinen Wein, und als ich sah, daß auch der Priester aus dem Tempel vor dem Haus des Gottes sich zu ihnen gesellte, ging ich zu Kaptah hinüber und sprach:
»Die Götter haben bestimmt, daß wir uns jetzt trennen müssen. Minea ist nicht zurückgekehrt, und ich glaube auch nicht, daß sie es tun wird, wenn ich sie nicht holen gehe. Aber bis heute ist noch keiner, der dieses dunkle Haus betreten hat, zurückgekehrt. Daher ist auch nicht anzunehmen, daß ich wiederkommen werde. Du tust am besten daran, dich in einem Hain zu verstecken, und wenn ich bis zum Morgen nicht zurück bin, gehst du allein zur Stadt. Wenn jemand nach mir fragen sollte, so gib ihm zur Antwort, ich sei von einem steilen Abhang ins Meer gestürzt, oder erfinde sonst eine Ausrede – du bist ja darin viel geschickter als ich. Ich bin zwar so sicher, nicht zurückzukehren, daß du dich sofort auf den Weg machen kannst, wenn du willst. Deshalb habe ich auch eine Lehmtafel für dich hergerichtet und ihren Inhalt mit einem syrischen Siegel bestätigt. Du kannst damit nach Syrien fahren und meine Guthaben in den Handelshäusern abheben. Auch mein Haus kannst du, wenn du willst, verkaufen. Wenn du das erledigt hast, bist du frei, zu tun, was immer dir beliebt. Fürchtest du jedoch, in Ägypten als entlaufener Sklave gefaßt zu werden, so bleibe in meinem Haus zu Simyra und lebe nach eigenem Gutdünken von meinen Mitteln! Unter diesen Umständen brauchst du auch nicht für die Einbalsamierung meines Leibes zu sorgen; denn wenn ich Minea nicht mehr finde, ist es mir gleichgültig, ob mein Leib erhalten bleibt oder nicht. Du bist mir ein getreuer Diener gewesen, wenn du mich auch oft mit deinem Geleier gelangweilt hast, und deshalb tut es mir leid, dich vielleicht zu oft und hart mit dem Stock geschlagen zu haben. Ich tat es jedenfalls in guter Absicht und hoffe daher, daß du es mir nicht nachträgst. Geh also im Schutze des Skarabäus, den du mitnehmen darfst, da du mehr als ich an ihn glaubst. Ich bin nämlich nicht der Ansicht, daß ich den Skarabäus dort brauchen werde, wohin ich mich jetzt begebe.«
Kaptah schwieg lange, ohne mich anzusehen, dann sprach er: »Herr, ich trage es dir nicht nach, daß du mich zuweilen unnütz hart mit dem Stock geschlagen hast, tatest du es doch in bester Absicht und nach Maßgabe deines Verstandes, öfter jedoch hast du auf meinen Rat gehört, und noch öfter hast du zu mir wie zu einem Freunde, nicht aber wie zu einem Diener und Sklaven gesprochen, so daß ich um deine Würde besorgt war, bis der Stock den von den Göttern festgesetzten Unterschied zwischen uns wiederhergestellt hat. Jetzt verhält es sich aber so, daß diese Minea auch meine Herrin ist, nachdem ich ihren gesegneten kleinen Fuß auf meinen Kopf gestellt habe; und als ihr Diener trage ich die Verantwortung für sie! Auch ohne das könnte ich dich nicht allein dieses dunkle Haus betreten lassen, und zwar aus vielen Gründen, die ich
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