Sinuhe der Ägypter
Jungfräulichkeit bewahren mußten, um in das Licht und die Freude des Gotteshauses einzugehen. Ich dachte an ihre in den Irrgärten des dunklen Hauses zerstreuten Schädel und Gebeine, dachte an das Ungeheuer, das sie in dem Labyrinth verfolgte und ihnen mit seinem furchtbaren Leib den Weg versperrte, so daß ihnen weder ihre Sprünge noch alle anderen vor den Stieren eingeübten Kunststücke helfen konnten. Dieses Scheusal lebte von Menschenfleisch und begnügte sich mit einer Mahlzeit im Monat; und diese Mahlzeit wurde ihm von den Herrschern Kretas als Opfer dargebracht in der Gestalt der schönsten Jungfrauen und untadeligsten Jünglinge, weil man sich einbildete, dadurch die Herrschaft über das Meer behalten zu können. Sicherlich war dieses Ungeheuer in Urzeiten durch einen Sturm aus furchtbaren Meerestiefen in die Höhle hineingetrieben worden, ebenso sicher hatte man ihm den Rückzug versperrt, das Labyrinth gebaut und es mit Opfern gefüttert, bis es gestorben war. Ein zweites Ungeheuer dieser Art aber gab es bestimmt nicht mehr in der Welt. Wo war also Minea?
Wahnsinnig vor Verzweiflung, rief ich ihren Namen, daß es in der Grotte widerhallte, bis Kaptah mich auf vertrocknete Blutspuren auf dem Steinboden aufmerksam machte. Ich folgte ihnen, spähte ins Wasser und erblickte Mineas Leib oder richtiger das, was von ihm übriggeblieben war. Der Leichnam bewegte sich langsam in der Tiefe, von Seekrabben umgeben, die von allen Seiten gierig daran rissen und das Gesicht bereits so zerfressen hatten, daß ich Minea nur noch an ihrem silbernen Haarnetz erkannte. Ich brauchte die Wunde in ihrer Brust nicht zu sehen, um zu wissen, daß Minotauros ihr hierher gefolgt war und sie von hinten mit dem Schwert durchbohrt hatte, um ihren Leichnam dann ins Wasser zu werfen, damit niemand erfahre, daß der Gott Kretas tot sei. In gleicher Weise war er gewiß schon mit manchem Jüngling und mancher Jungfrau vor Minea verfahren.
Als ich das alles sah und begriff, entstieg meiner Kehle ein Schrei des Entsetzens; ich sank in die Knie, verlor das Bewußtsein und wäre zweifellos den Hang hinab zu Minea gerollt, wenn Kaptah mich nicht beim Arm gepackt und an eine sichere Stelle geschleppt hätte, wie er mir später erzählte. Denn von dem, was hernach mit mir geschah, weiß ich nur, was Kaptah mir berichtet hat. So tief und barmherzig war die Bewußtlosigkeit, die mich nach all der ausgestandenen Unruhe, Qual und Verzweiflung befiel.
Kaptah erzählte, er habe lange neben meinem Leib gejammert, weil er mich für tot gehalten; und auch Mineas wegen habe er geweint, bis er schließlich seinen Verstand zusammengenommen, meinen Körper befühlt und entdeckt habe, daß ich noch lebte, worauf er wenigstens mich habe retten wollen, nachdem es für Minea zu spät war. Er erzählte weiter, daß er auch die Leichen anderer von Minotauros umgebrachter Jünglinge und Jungfrauen gesehen; ihnen hätten die Krabben alles Fleisch von den Knochen genagt, und ihre Gebeine lägen glatt und weiß auf dem sandigen Meeresboden. Ob er mir dies zum Trost erzählte, weiß ich nicht. Jedenfalls hatte der Gestank ihn allmählich zu ersticken gedroht, und nachdem er eingesehen, daß er nicht gleichzeitig den Weinkrug und mich tragen konnte, trank er entschlossen den Wein aus und schleuderte den Krug ins Wasser. Der Wein aber verlieh ihm genügend Kräfte, um mich, halb tragend, halb schleifend und stets dem abgewickelten Faden folgend, wieder zum Kupfertor zurückzuschleppen. Um keine Spur unseres Besuches im Labyrinth zu hinterlassen, hatte er sich nach eigener Überlegung entschlossen, den Faden auf dem Rückzug wieder aufzuwickeln. Er behauptete auch, beim Fackelschein geheime Zeichen an den Wänden und Kreuzungen der Gänge entdeckt zu haben, die ohne Zweifel von Minotauros als Wegweiser angebracht worden waren. Den Weinkrug aber wollte Kaptah absichtlichs ins Wasser geworfen haben, um Minotauros bei seiner nächsten Mordtat etwas zu denken zu geben.
Der Tag begann bereits zu dämmern, als er mich endlich an die frische Luft brachte, die Pforte hinter sich schloß und den Schlüssel wieder an seinen Platz im Haus des Priesters hängte. Sowohl dieser als auch die Wächter lagen immer noch in tiefem Schlaf, betäubt vom Wein, den ich ihnen kredenzt hatte. Hierauf schleppte er mich ans Ufer eines Baches, wo er mich im Gebüsch versteckte, mir das Gesicht wusch und die Hände rieb, bis ich wieder zu mir kam. Aber auch hiervon weiß ich nichts mehr, weil
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