Sinuhe der Ägypter
ich, wie er behauptete, ganz verwirrt war und nicht sprechen konnte, weshalb er mir ein Beruhigungsmittel verabreichte. Zu vollem Bewußtsein kam ich, von ihm gestützt und geführt, erst später, als wir uns bereits in der Nähe der Stadt befanden. Von da an erinnere ich mich wieder an alles.
Doch kann ich mich nicht entsinnen, einen eigentlichen Schmerz verspürt zu haben, und ich dachte nicht mehr viel an Minea, die bloß noch wie ein ferner Schatten in meiner Seele war, als wäre ich ihr irgendwann und irgendwo in einem früheren Leben begegnet. Hingegen dachte ich an die Tatsache, daß der Gott Kretas tot war und daß daher die Macht Kretas laut Prophezeiung ihr Ende finden mußte. Darüber war ich keineswegs betrübt, obgleich die Kreter freundlich zu mir gewesen waren und ihr Frohsinn wie auch ihre Kunst dem glitzernden Schaum am Meeresufer glichen. Während ich mich der Stadt näherte, empfand ich Befriedigung beim Gedanken, daß diese luftigen, schönen Bauten eines Tages in Flammen stehen, das geile Kreischen der Frauen sich in Todesschreie wandeln, das goldene Stierhaupt des Minotauros mit einem Hammer plattgeschlagen, zerstückelt und als Beute verteilt werden und nichts von Kretas Macht übrigbleiben, sondern die Insel der Kreter in den Schoß des Meeres, aus dem sie einst mit dem gräßlichen Stier emporgestiegen war, versinken würde. Ich dachte auch an Minotauros, ohne jedoch schlecht von ihm zu denken. Denn der Tod Mineas war leicht gewesen; sie hatte nicht unter Aufbietung ihrer ganzen Kunst vor dem Seeungeheuer fliehen müssen, sondern war gestorben, ohne recht zu wissen, was mit ihr geschah. Ich dachte an Minotauros als den einzigen Menschen, der gewußt hatte, daß der Gott tot war und Kreta untergehen würde; und ich erfaßte, wie schwer sein Wissen darum zu tragen war. Ich konnte auch nicht ermessen, ob ihm sein Geheimnis leicht zu wahren gewesen, solange das Ungeheuer noch lebte und er Monat für Monat, Jahr für Jahr die schönsten Jungfrauen und Jünglinge seines Landes in das dunkle Haus schickte, wohl wissend, was dort ihrer harrte. Nein, ich hegte keinen Groll gegen Minotauros, sondern sang und lachte so einfältig, während ich einher schritt, daß es Kaptah ein leichtes war, den uns begegnenden Freunden Mineas zu erklären, ich sei immer noch betrunken, was begreiflich sei, da ich als Fremder nicht wußte, wie barbarisch es wirken mußte, am hellichten Tag betrunken zu sein. Schließlich gelang es Kaptah, eine Sänfte aufzutreiben und mich in die Herberge zu bringen, wo ich reichlich Wein zu mir nahm, um alsdann tief und lange zu schlafen.
Als ich erwachte, war ich ganz klar im Kopf und alles Vergangene schien mir weit zurückzuliegen. Ich dachte wieder an Minotauros und daß ich ihn töten könnte, fand aber, daß ich weder Nutzen noch Freude dran hätte. Auch dachte ich an die Möglichkeit, dem Volk im Hafenviertel den Tod des Gottes Kretas zu verraten. Dadurch konnte ich das Feuer die Stadt verheeren und das Blut ihrer Bewohner fließen lassen; aber auch dies würde mir weder Nutzen noch Freude bringen. Weiter dachte ich daran, daß ich durch die Enthüllung der Wahrheit all jenen, die bereits das Los gezogen oder es in Zukunft ziehen würden, das Leben retten könnte; aber ich wußte, daß die Wahrheit ein gezücktes Messer in der Hand eines Kindes ist und sich gegen ihren Träger wenden kann.
Deshalb war ich der Ansicht, daß der Gott Kretas mich als einen Fremden nichts anging und daß ich Minea ja doch nie zurückbekommen könnte, sondern daß Krebse und Krabben ihre zarten Knochen abnagen würden, um sie für Zeit und Ewigkeit in der Meerestiefe ruhen zu lassen. Ich dachte, daß all das bereits vor meiner Geburt in den Sternen geschrieben und ich geboren ward, um in der Abenddämmerung der Welt zu leben, da die Götter starben und sich alles anders als zuvor gestaltete, indem ein Weltjahr zu Ende ging und ein neues begann. Dieser Gedanke brachte mir Trost, und ich sprach viel darüber mit Kaptah. Aber dieser behauptete, ich sei krank und müsse mich ausruhen, und verwehrte jedermann den Zutritt zu mir, weil ich auch mit anderen darüber zu sprechen wünschte.
Überhaupt fiel mir Kaptah in diesen Tagen äußerst lästig, denn er stopfte unaufhörlich Essen in mich hinein, obwohl ich gar nicht hungrig war und mich mit Wein allein begnügt hätte. Ich litt nämlich an einem steten Durst, der nur durch Wein zu löschen war, und fühlte mich am ruhigsten und einsichtigsten in den
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