Sinuhe der Ägypter
Ich blickte um mich, und der Hof war mir lieb, und die Sykomore war mir lieb, und das steinerne Wasserbecken war mir lieb. »Mein Sohn Sinuhe«, sagte mein Vater, »willst du Arzt werden, ein geschickterer und besserer als ich, ein Herr über Leben und Tod, in dessen Hände ein Mensch, weder nach Stand und Rang fragend, vertrauensvoll sein Leben legt?«
»Kein Arzt wie er noch wie ich«, sagte Ptahor und richtete sich auf, und seine Augen blickten klug und scharf, »sondern ein rechter. Denn der Größte von allen ist ein rechter Arzt. Vor ihm steht selbst der Pharao entblößt, und Arme und Reiche sind gleich vor ihm.«
»Ich will gerne ein richtiger Arzt werden«, sagte ich schüchtern, denn im war noch ein Knabe und wußte nichts vom Leben und wußte auch nicht, daß das Alter stets gerne seine eigenen Träume und Enttäuschungen auf die Achseln der Jugend lädt.
Meinem Freunde Thotmes aber zeigte Ptahor einen Goldreifen, den er am Handgelenk trug, und sagte: »Lies!« Thotmes buchstabierte die eingegrabenen Bilder und las zögernd: »Mich gelüstet nach einem vollen Becher!« Er konnte ein Lächeln nicht zurückhalten.
»Lächle nicht, Schlingel«, sprach Ptahor ernst. »Es geht nicht mehr um Wein. Doch wenn du ein Künstler werden willst, mußt du deinen Becher voll verlangen. In dem wahren Künstler offenbart sich Ptah, der Schöpfer und Erbauer, selbst. Der Künstler ist nicht bloß ein Wasser und ein Spiegel, sondern mehr. Gewiß ist die Kunst oft ein schmeichelndes Wasser und ein lügenhafter Spiegel, aber dennoch ist der Künstler mehr als Wasser. Verlange deinen Becher voll, mein Junge, und begnüge dich nicht mit dem, was man dir sagt, sondern verlasse dich mehr auf deine klaren Augen.«
Hierauf versprach er, daß ich bald als Schüler in das Haus des Lebens berufen werde, und daß er auch versuchen wolle, Thotmes zum Eintritt in die Kunstschule des Ptahtempels zu verhelfen.
»Nun aber, ihr Jungen«, sagte er, »hört gut zu, was ich euch zu sagen habe, und dann vergesset es alsbald, vergesset wenigstens, daß der königliche Schädelbohrer es euch gesagt hat! Ihr kommt jetzt in die Hände der Priester, und Sinuhe selbst wird eines Tages zum Priester geweiht werden, denn wie dein Vater und ich einst zum untersten Grad geweiht wurden, so ist es niemandem gestattet, den Arztberuf auszuüben, bevor er zum Priester geweiht wurde. Doch wenn ihr im Tempel in die Hände der Priester geratet, sollt ihr mißtrauisch wie Schakale und schlau wie Schlangen sein, auf daß ihr euch selbst nicht verlieret noch verblenden laßt. Äußerlich aber sollt ihr sanft wie Tauben sein, denn erst, wenn ein Mann sein Ziel erreicht hat, soll er sich so zeigen, wie er ist. So ist es stets gewesen, und so wird es immer bleiben. Denkt daran!«
Wir plauderten noch eine Weile, bis der Diener Ptahors mit einer gemieteten Sänfte und reinen Gewändern für seinen Herrn wiederkehrte. Ptahors eigene Sänfte hatten die Neger in einem nahegelegenen Freudenhaus versetzt, wo sie immer noch lagen und schliefen. Ptahor gab dem Diener eine Vollmacht, die Sänfte und die Sklaven aus dem Freudenhaus auszulösen, nahm dann Abschied von uns, indem er meinen Vater seiner treuen Freundschaft versicherte, und begab sich in den Stadtteil der Vornehmen zurück.
So kam ich in das Haus des Lebens im großen Ammontempel. Am folgenden Tag aber sandte Ptahor, der königliche Schädelbohrer, Kipa einen heiligen Skarabäus aus kostbarem Gestein zum Geschenk, damit sie ihn im Grabe unter ihrem Leichentuch am Herzen tragen möge. Eine größere Freude hätte er meiner Mutter nicht bereiten können, deshalb verzieh sie ihm alles und redete mit meinem Vater Senmut auch nicht mehr über den Fluch des Weines.
Zweites Buch
DAS HAUS DES LEBENS
1
Zu jener Zeit waren die Ammonpriester Thebens allein befugt, den höheren Unterricht zu erteilen. Niemand durfte sich ohne priesterliches Eintrittsgeld den für ein höheres Amt notwendigen Studien widmen. Jedermann wird verstehen, daß das Haus des Lebens und das Haus des Todes wie auch die eigentliche theologische Hochschule zur Ausbildung höherer Priester seit Urzeiten in den Bereich des Tempels gehörten. Man kann auch noch verstehen, daß die mathematische und astronomische Fakultät der Machtbefugnis der Priester unterstellt waren. Nachdem diese aber auch die juristische und die merkantile Ausbildung in die Hand nahmen, regte sich in den gebildeten Kreisen allmählich der Verdacht, die Priester mischten sich
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