Sinuhe der Ägypter
unter meines Vaters Leitung eine bessere Vorbildung als sie. Später habe ich eingesehen, daß die Priester Amnions mir an Klugheit überlegen waren. Sie durchschauten mich, erkannten meinen Trotz und meine Zweifel und wollten mich daher prüfen.
Schließlich erhielt ich den Bescheid, daß ich an der Reihe sei, im Tempel zu wachen. Eine Woche lang mußte ich in den inneren Räumen wohnen und durfte während dieser Zeit das Gebiet des Tempels nicht verlassen. Ich sollte mich reinigen und fasten. Mein Vater beeilte sich, meine Knabenlocke abzuschneiden und unsere Nachbarn zu einem Gastmahl einzuladen, um den Tag meiner Mannesreife zu feiern. Da ich bereit zur Priesterwürde war, würde ich – wie schlicht und unbedeutend diese Zeremonie in Wirklichkeit auch sein mochte – künftig als Erwachsener betrachtet werden. Denn diese Weihe stellte mich über meine Nachbarn wie auch über meine Gleichaltrigen.
Kipa hatte ihr Bestes getan, aber die Honigkuchen schmeckten mir nicht. Ich fand keine Freude an der Ausgelassenheit und den derben Scherzen unserer Nachbarn. Am Abend, als die Gäste gegangen waren, griff meine Niedergeschlagenheit auch auf Senmut und Kipa über. Senmut begann die Geschichte meiner Geburt zu erzählen, wobei ihn Kipa an manches wieder erinnern mußte. Ich betrachtete das über ihrem Bett hängende Binsenboot. Seine rauchgeschwärzten brüchigen Stellen verursachten mir Herzweh. Ich besaß keinen richtigen Vater und keine richtige Mutter auf Erden. In einer großen Stadt war ich einsam unter den Sternen. Vielleicht war ich bloß ein elender Fremdling im Lande Kêmet. Vielleicht war meine Herkunft ein schmachvolles Geheimnis.
Als ich mit dem Weihegewand, das Kipa mir mit viel Sorgfalt und Liebe angefertigt hatte, zum Tempel ging, trug ich eine Wunde im Herzen.
2
Wir waren fünfundzwanzig Jünglinge und jüngere Männer, die sich zur Weihe vorstellten. Nachdem wir im Tempelteich gebadet hatten, wurde uns das Haar abrasiert, und wir legten grobe Gewänder an. Der Priester, der uns weihen sollte, war nicht kleinlich. Nach altem Brauch hätte er uns manch demütigender Zeremonie unterziehen können, aber unter uns befanden sich einige vornehme Knaben sowie einige Rechtskundige, die ihre Prüfung bereits bestanden hatten, erwachsene Männer, die in den Dienst Ammons traten, um ihre Laufbahn zu sichern. Sie hatten reichlich Proviant mitgebracht und boten den Priestern Wein an, und mehrere von ihnen entwichen nachts in die Freudenhäuser, denn für sie bedeutete die Priesterweihe nichts Erhabenes. Ich wachte mit wundem Herzen, und vielerlei Gedanken zogen durch meinen bitteren Sinn. Ich begnügte mich mit einem Stück Brot und einem Becher Wasser, wie es der Brauch verlangte, und harrte voller Hoffnungen und düsterer Ahnungen der kommenden Dinge.
Ich war noch so jung, daß ich unsäglich gerne glauben wollte. Es wurde behauptet, daß Ammon sich bei der Weihe jedem Priesterkandidaten offenbare und zu ihm spreche. Für mich hätte es eine unbeschreibliche Erleichterung bedeutet, mich von mir selbst befreien und einen Sinn hinter allem ahnen zu können. Doch vor einem Arzt ist selbst der Pharao nackt. In meines Vaters Begleitung hatte ich schon als Junge Krankheit und Tod gesehen. Mein Blick hatte sich geschärft, ich sah mehr als meine Gleichaltrigen. Einem Arzt darf nichts zu heilig sein, noch darf er sich vor etwas anderem als vor dem Tod beugen, lautete meines Vaters Lehre. Deshalb zweifelte ich, und alles, was ich in den drei Jahren im Tempel gesehen, hatte meine Zweifel noch genährt.
Aber, dachte ich, vielleicht befindet sich hinter dem Vorhang, im Dunkel des Allerheiligsten, doch etwas, das mir unbekannt ist. Vielleicht wird Ammon sich mir offenbaren und meinem Herzen Frieden schenken.
An all das dachte ich, während ich den Tempelgang durchstreifte, zu dem auch Laien Zutritt hatten. Ich betrachtete die farbenfrohen heiligen Bilder und las die Inschriften, die berichteten, welch unermeßliche Gaben die Pharaonen aus ihren Kriegen Ammon als göttlichen Beuteteil gebracht hatten. Da stieß ich plötzlich auf ein schönes Weib, dessen Gewand aus dünnstem Leinen war und Brust und Lenden durchscheinen ließ. Sie war von aufrechter schlanker Gestalt, und ihre Lippen, Wangen und Augenbrauen waren gefärbt. Neugierig und ohne Scheu betrachtete sie mich.
»Wie ist dein Name, schöner Jüngling?« fragte sie und sah mit ihren grünen Augen auf mein graues Achselgewand, von dem ersichtlich war, daß ich
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