Sinuhe der Ägypter
Sie stellten sich um die Kranken herum und begannen zu beten, zu hüpfen und Rufe auszustoßen. Sie tanzten und schrien, bis ihnen der Schweiß über die Gesichter zu strömen begann, worauf sie ihre Achseltücher abwarfen, Glocken in den Händen schwenkten und sich die Brust mit scharfen Steinen schürften, so daß Blut daraus sickerte. Ich hatte bereits in Syrien ähnlichen Riten beigewohnt und betrachtete daher ihre Verzückung kaltblütig und ungerührt, bis sie noch lauter als zuvor zu schreien und die Steinwand mit den Fäusten zu bearbeiten begannen, worauf sich diese auftat und Ammons heiliges Bildnis schreckenerregend im Schein der Lampe vor uns stand. Im selben Augenblick verstummten die Priester, und nach all dem Lärm wirkte das Schweigen fürchterlich. Das Antlitz Ammons leuchtete, glühend von himmlischem Licht, in dem dunklen Gewölbe zu uns herüber, und plötzlich trat der oberste Priester vor die Kranken, rief sie bei ihren Namen und sprach: »Erhebt euch und geht! Der große Ammon hat euch gesegnet, weil ihr an ihn glaubt!«
Da sah ich mit eigenen Augen die drei Kranken, den Blick starr auf das Bildnis des Gottes gerichtet, sich zögernd auf ihren Bahren bewegen. Mit zitternden Gliedern erhoben sie sich zuerst auf die Knie, standen dann auf und betasteten prüfend ihre Glieder, um schließlich in Tränen und Gebete auszubrechen und den Namen Ammons zu segnen. Die Wand aber schloß sich wieder, die Priester entfernten sich, und die Sklaven trugen das Räucherwerk fort und entzündeten zahlreiche Lampen, um uns Ärzten die Untersuchung der Kranken zu erleichtern. Wir stellten fest, daß die junge Frau ihre Glieder bewegen und, von uns gestützt, einige Schritte machen konnte, daß der Greis aus eigenen Kräften zu gehen vermochte und der Ausschlag des Jungen verschwunden und seine Haut glatt und rein war. All das geschah im Verlauf einiger Wassermaße, und ich würde dergleichen niemals für möglich gehalten haben, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.
Der Priester, der uns empfangen hatte, trat mit siegesbewußtem Lächeln auf uns zu und fragte: »Was sagst du nun, königlicher Sinuhe?« Ich blickte ihm unerschrocken in die Augen und erwiderte: »Ich verstehe, daß die Frau und der Greis an irgendeiner Zauberei litten, die ihren Willen gefesselt hielt, und Zauberei wird durch das gleiche Mittel aufgehoben, falls der Wille des Zauberers stärker ist als ein in Bann geschlagener Wille. Aber ein Ausschlag bleibt ein Ausschlag und kann nicht durch Zauberei, sondern nur durch monatelange Pflege und Heilbäder kuriert werden. Deshalb muß ich zugeben, daß ich nie zuvor etwas Derartiges gesehen habe.«
Er blickte mich mit flammenden Augen an und fragte: »Gibst du also zu, Sinuhe, daß Ammon immer noch der König aller Götter ist?« Ich aber entgegnete: »Ich wünsche nicht, daß du den Namen des falschen Gottes laut aussprichst! Der Pharao hat es verboten, und ich bin sein Diener.«
Ich sah wohl, daß meine Worte ihn aufbrachten; aber er war ein Priester des obersten Grades, und sein Wille stärker als sein Herz. Darum beherrschte er sich und sprach lächelnd: »Mein Name ist Hrihor – damit du mich den Wächtern angeben kannst! Aber ich fürchte die Wächter des falschen Pharao nicht, und ebensowenig fürchte ich seine Geißel und seine Gruben und werde jedermann, der im Namen Ammons zu mir kommt, heilen. Laß uns aber nicht über diese Dinge streiten, sondern lieber wie gebildete Menschen miteinander reden. Ich lade dich daher in meine Zelle zum Weintrinken ein; du bist sicher müde, nachdem du mehrere Wassermaße lang auf einem harten Sitz gesessen hast.«
Der Weg in seine Zelle führte durch steinerne Gänge, deren drückende Luft mir verriet, daß wir uns unter der Erde befanden, und mir fielen die Höhlen Ammons ein, über die viele Sagen erzählt wurden, die aber wohl von keinem Uneingeweihten je betreten worden waren. Hrihor verabschiedete den Wundarzt aus dem Haus des Lebens, und ich betrat mit ihm die Zelle, wo es an keiner Bequemlichkeit fehlte, die ein Menschenherz erfreuen kann. Sein Ruhelager war von einem Baldachin überwölbt, seine Kästen und Schreine waren aus Elfenbein und Ebenholz, seine Teppiche weich und prächtig, und der Raum duftete nach kostbaren Salben. Höflich goß er mir Riechwasser über die Hände, bot mir einen Sitz an und bewirtete mich mit Honigkuchen, Obst und uraltem, mit Myrrhe gewürztem schwerem Wein aus den Rebbergen Ammons. Wir tranken, und
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