Sinuhe der Ägypter
zweifle, ob du jemals Genesungen sahst, wie sie heutzutage heimlich in Theben geschehen; denn zu diesen braucht es weder Messer noch Feuer, weder Arzneien noch Binden. Man hat mich beauftragt, dir davon zu erzählen und dich zu fragen, ob du einer solchen Kur beiwohnen wolltest. Doch du mußt versprechen, niemand etwas von dem, was du zu sehen bekommen wirst, zu erzählen! Auch mußt du dir die Augen verbinden lassen, wenn du zu dem heiligen Platz der Gesundung geführt wirst, weil du seine Lage nicht wissen darfst.«
Seine Rede gefiel mir nicht; denn ich befürchtete, wegen dieser Angelegenheit Unannehmlichkeiten mit dem Pharao zu bekommen. Trotzdem war meine Neugier groß, und deshalb sagte ich: »Ich habe allerdings vernommen, daß sich in Theben heutzutage seltsame Dinge zutragen. Die Männer erzählen Märchen, und die Frauen haben Gesichte – von Glaubensheilungen aber habe ich noch nichts gehört. Als Arzt zweifle ich auch sehr an Kuren, die ohne Messer und Feuer, ohne Arzneien und Binden vorgenommen werden. Deshalb will ich nicht in irgendwelche Betrügereien verwickelt werden, und mein Name darf nicht zum Zeugnis für Dinge, die es nicht gibt und die nicht geschehen, mißbraucht werden.«
Er widersprach mir eifrig und sagte: »Wir hielten dich für vorurteilsfrei, königlicher Sinuhe, der du viele Länder bereist und dort für uns Ägypter unbekanntes Wissen gesammelt hast. Auch kann man ja Blutungen ohne Zangen oder glühendes Eisen stillen. Warum sollte man also nicht auch ohne Feuer und Messer heilen können? Wir versichern dir, daß dein Name nicht in die Angelegenheit verwickelt wird; aber aus besonderen Gründen möchten wir gerade dich als Augenzeugen, damit du siehst, daß bei diesen Heilungen kein Betrug stattfindet. Du bist einsam und ein unparteiischer Zeuge, deshalb brauchen wir gerade dich.«
Seine Worte verblüfften mich und erregten meine Neugier. Auch wollte ich gerne mein ärztliches Wissen bereichern. Deshalb ging ich auf seinen Vorschlag ein. Nach Einbruch der Dunkelheit holte er mich in meinem Haus in einer Sänfte ab und band mir ein Tuch vor die Augen, damit ich nicht sehe, in welche Richtung man mich forttrug. Nachdem die Sänfte abgestellt worden war, nahm er mich bei der Hand und führte mich durch viele Gänge treppauf und treppab, bis ich erklärte, daß ich es satt habe und den Spaß nicht länger mitmache. Da beruhigte er mich, nahm mir die Binde ab und geleitete mich in einen großen Saal mit Steinwänden, in dem zahlreiche Lampen brannten. Auf dem Boden lagen auf Bahren drei Kranke, und ein Priester mit rasiertem Kopf und von heiligem Öl glänzendem Gesicht trat auf mich zu. Er nannte mich beim Namen und forderte mich auf, die Patienten genau zu untersuchen, um mich zu überzeugen, daß kein Betrug vorliege. Seine Stimme war fest und mild zugleich, und seine Augen waren die eines Weisen. Deshalb leistete ich seiner Aufforderung Folge und untersuchte die Kranken, wobei mir der Wundarzt aus dem Haus des Lebens an die Hand ging.
Ich sah, daß die drei Patienten tatsächlich krank waren und sich nicht aus eigener Kraft von ihren Bahren zu erheben vermochten. Die erste war eine junge Frau mit vertrockneten, mageren, vollkommen leblosen Gliedern, in deren abgezehrtem Gesicht sich nur die dunklen Augen erschrocken bewegten. Der zweite war ein Junge, dessen ganzer Körper von einem entsetzlichen Ausschlag und blutigem Schorf bedeckt war. Der dritte wiederum war ein alter Mann, dessen Beine so gelähmt waren, daß er nicht gehen konnte; ich überzeugte mich von der Echtheit der Lähmung, indem ich ihn mit einer Nadel in die Beine stach, wobei er nicht den geringsten Schmerz spürte. Deshalb sagte ich schließlich zu dem Priester: »Ich habe diese drei Patienten nach bestem Vermögen untersucht, und wenn ich ihr Arzt wäre, würde mir nichts anderes übrigbleiben, als sie in das Haus des Lebens zu schicken. Die Frau und der Alte könnten auch dort schwerlich geheilt, die Leiden des Knaben hingegen vielleicht durch tägliche Schwefelbäder gelindert werden.«
Der Priester lächelte und ließ uns zwei Ärzte in dem hinteren, verdunkelten Teil des Saales Platz nehmen, wo wir geduldig warteten. Daraufhin ließ er Sklaven hereinkommen, welche die Bahren mit den Kranken auf den Altar hinaufhoben und betäubendes Räucherwerk in den Rauchfässern anzündeten. Aus dem Gang wurden Stimmen vernehmbar, und eine Gruppe Priester kam unter Absingen der heiligen Lieder Ammons zur Tür herein.
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