Sinuhe der Ägypter
Speer zu übergeben, und wir nahmen Platz auf den Tragstangen, als die Sänfte sich in Bewegung setzte. Die Träger eilten im Laufschritt zum Ufer, wo bereits ein Schiff uns erwartete, und wir kehrten auf dem gleichen Weg, den wir gekommen waren, in den Palast zurück, ohne Aufsehen zu erregen, obgleich das Volk in dichten Reihen vor den Mauern stand.
Wir durften dem Thronfolger in seine Gemächer folgen, und er zeigte uns große Krüge aus Kreta, auf denen schwimmende Fische und andere Tiere abgebildet waren. Ich hätte es Thotmes gegönnt, sie zu sehen, denn sie bewiesen, daß die Kunst anders aufgefaßt werden konnte als in Ägypten. Nachdem der erschöpfte Thronfolger sich beruhigt hatte, redete und führte er sich so vernünftig auf wie andere Jünglinge unseres Alters, ohne übertriebene Höflichkeit und Ehrfurcht zu verlangen. Dann wurde gemeldet, daß die große königliche Mutter nahe, um sich vor ihm zu verneigen. Da nahm er Abschied von uns und versprach, uns beide nicht zu vergessen. Als wir gegangen waren, blickte mich Haremhab unschlüssig an.
»Ich bin besorgt«, sagte er. »Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.«
»Bleibe ruhig da«, sagte ich. »Er versprach, sich deiner zu erinnern. Deshalb ist es am besten, du bist in der Nähe, wenn er sich deiner entsinnt. Die Götter sind launisch 1 und vergessen rasch.«
»Du meinst, ich solle hierbleiben und mich diesem Fliegenschwarm anschließen?« sagte Haremhab und wies auf die Hofleute, die sich vor den Türen zu den Gemächern des Thronfolgers drängten. »Nein, ich habe wahrhaftig Grund, besorgt zu sein«, fuhr er düster fort. »Was soll aus einem Ägypten werden, dessen Pharao Blut scheut und meint, daß alle Völker und alle Sprachen und alle Farben ebenbürtig seien? Ich bin zum Krieger geboren, und mein Kriegerverstand sagt mir, daß dies ein schlechtes Omen für die Zukunft eines Kriegers ist. Jedenfalls will ich meinen Speer suchen gehen. Der Vorläufer hat ihn behalten.« Wir trennten uns, und ich forderte ihn auf, mich im Haus des Lebens aufzusuchen, falls er einen Freund brauche.
In unserem Zimmer erwartete mich Ptahor erzürnt, mit roten Augen. »Du warst verschwunden, als der Pharao in der Morgendämmerung seinen letzten Seufzer tat«, schalt er. »Du warst verschwunden, und ich schlief, und keiner von uns beiden hat gesehen, wie die Seele des Pharao, einem Vogel gleich, aus seiner Nase flog und geradenwegs zur Sonne stieg. Viele Augenzeugen haben es berichtet. Auch ich wäre gerne zugegen gewesen, denn ich liebe solche Wunder sehr, du aber warst nicht da, um mich zu wecken. Mit welchem Mädchen hast du heute nacht geschlafen?«
Ich berichtete ihm, was sich in dieser Nacht zugetragen hatte, und er hob die Hände zum Zeichen größter Verwunderung. »Ammon behüte uns!« rief er. »Der neue Pharao ist verrückt.«
»Ich glaube nicht, daß er verrückt ist«, sagte ich zögernd, denn mein Herz fühlte sich in seltsamer Weise zu dem kranken Jüngling hingezogen, über den ich gewacht hatte und der freundlich zu mir gewesen war. »Ich glaube, er hat einen neuen Gott geschaut. Wenn er selbst aus seinen verworrenen Gedanken zur Klarheit kommt, werden wir im Lande Kêmet vielleicht Wunder erleben.«
»Ammon bewahre uns davor«, sagte Ptahor entsetzt. »Schenke mir lieber Wein ein, denn meine Kehle ist trocken wie der Staub der Straßen.«
Dann führte man uns in einen Pavillon im Haus der Gerechtigkeit, wo der alte Siegelbewahrer als Richter saß und die vierzig Lederrollen, auf denen das Gesetz geschrieben war, vor ihm lagen. Bewaffnete Soldaten umringten uns, um uns am Fliehen zu hindern, und der Siegelbewahrer verlas uns aus einer Lederrolle das Gesetz und teilte uns mit, daß wir sterben müssen, weil der Pharao nach der Schädelbohrung nicht genas. Ich blickte Ptahor an, aber er lächelte nur, als der Henker mit seinem Schwert vortrat. »Mag der Blutstiller als erster gehen«, sagte er. »Er hat es eiliger denn wir, in das Land des Westens zu gelangen.«
Der Blutstiller nahm freundlich Abschied von uns, schlug das heilige Zeichen Ammons und kniete unterwürfig vor den Lederrollen zu Boden. Der Henker schwang sein Schwert und ließ es sausend einen Bogen über dem Haupte des Verurteilten beschreiben, hielt jedoch im Schlage inne, so daß die Schneide den Hals des Blutstillers nur ganz leicht berührte. Trotzdem sank der Blutstiller zu Boden, und wir glaubten, er sei vor Schrecken ohnmächtig geworden, denn an seinem Nacken war nicht
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