Siren of the Seas 01 - Meer der Sehnsucht
bescheidensten Kleidern immer noch verlockend wirkte. Ihr übersprudelndes Temperament passte zu den roten Haaren, und kein Mann konnte sich ihrer Ausstrahlung entziehen. Ihr Vater behauptete stets, sie habe bereits bei ihrer Geburt mit den langen Wimpern geklimpert und Alt und Jung praktisch um den kleinen Finger gewickelt.
Darcy, das Nesthäkchen, war von zierlicher Gestalt und hatte blondes Haar sowie stets strahlende blaue Augen. Es war unmöglich, sie nicht aus tiefster Seele zu lieben, denn ihre liebreizende Scheu und ihr hilfsbereites Wesen waren einfach unwiderstehlich.
Nur zögernd ließ sich Ambrosia von ihren Schwestern aus dem Zimmer und weiter die breite Treppe hinunterführen. Widerstrebend folgte sie ihnen durch das schwere Portal nach draußen, wo die Kutsche mit dem Wappen der Lamberts bereits vorgefahren war.
Der alte Newton Findlay reichte ihr die Hand, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein.
„Du siehst bezaubernd aus, Ambrosia", versicherte er und machte eine kleine Verbeugung vor ihr.
„Danke, New." Sie lächelte Findlay zu, ihrem Vertrauten seit frühester Kindheit. Er war schon sowohl mit ihrem Großvater als auch mit ihrem Vater zur See gefahren. Erst der Verlust eines Beins bei einem Kampf mit einem Hai hatte ihn dazu gezwungen, die Seefahrt aufzugeben. Seitdem kümmerte er sich um Kutschen und Pferde, machte sich auf dem großen Anwesen überall nützlich und unterhielt die Lambert-Mädchen, seit diese alt genug zum Zuhören waren, mit einem schier unerschöpflichen Vorrat an Seemannsgeschichten.
Jetzt hatte er eine saubere Jacke über seine Seemannskluft gezogen, die er tagaus, tagein trug. Er wollte einen guten Eindruck auf Mistress Coffey, die Haushälterin, machen, die größ-
ten Wert auf tadellose Manieren legte.
Sie stand neben der Kutsche und beobachtete, wie Ambrosia in das Gefährt stieg und neben ihren Schwestern Platz nahm. Seit dem Tod ihres Mannes vor mehr als zwanzig Jahren trug sie nur noch schwarze Gewänder, vorzugsweise hochgeschlossen und so sehr gestärkt, dass sie stets leise raschelten, wenn sich Mistress Coffey bewegte.
„Beeil dich, Newton", sagte sie jetzt und runzelte unwillig die Stirn. „Wir wollen doch nicht zu spät zu Edwinas Teestunde erscheinen."
„Ich weiß sowieso nicht, warum wir überhaupt zu Edwina zum Tee fahren müssen", bemerkte Ambrosia missgelaunt. „Das ist doch reine Zeitverschwendung. Edwina Cannon ist eine dumme, aufgeblasene Gans."
„Also, Ambrosia, ich muss doch sehr bitten!" Miss Winifred Mellon, das alte Kindermädchen, legte sich erschrocken die Hand auf den Mund. Sie war schon seit dem plötzlichen Tod von John Lamberts innigst geliebter Gattin Mary im Haus. Damals hatte sie als Amme und Kinderfrau die Schwestern in ihr Herz geschlossen und sie erzogen, als wären es ihre eigenen Kinder.
Erst als die Mädchen erwachsen wurden und kein Kindermädchen mehr brauchten, hatten sie erfahren, dass Miss Mellon weder Angehörige noch eine eigene Bleibe hatte, und so hatte man sie einfach auf MaryCastle, wie der Familiensitz ge nannt wurde, behalten.
Sie kümmerte sich weiterhin um die Erziehung der Lambert-Mädchen und achtete peinlichst genau auf stets untadelige Manieren ihrer Schützlinge und auch darauf, dass diese ihren Pflichten als junge Damen nachkamen. Wann immer sich eines der Mädchen in einer Weise aufführte, die Grund zur Empörung gab, erlitt Miss Mellon unweigerlich einen Ohnmachtsanfall. Diese Anfälle traten so häufig auf, dass sich inzwischen niemand mehr darüber aufregte. Familie und Bedienstete gingen einfach ihrer jeweiligen Beschäftigung nach und warteten in Ruhe ab, bis sich Miss Mellon wieder erholt hatte.
„Es ist unter deiner Würde, Edwina mit Schimpfnamen zu titulieren, Ambrosia", erklärte sie jetzt streng und mit jenem missbilligenden Unterton, den die jungen Frauen seit ihrer Kindheit kannten. „Dein Vater wäre zutiefst schockiert, wenn er seine Älteste in dieser vulgären Art würde reden hören. Und was, glaubst du, würde dein Bruder sagen zu derart undamenhaftem Benehmen?"
„James würde mir Recht geben, Winnie." Ambrosias Augen glitzerten. „Er hat mir erzählt von dem Tag, an dem er Edwina zum Picknick begleitet hat. Er meinte, er habe nicht einen noch so winzigen Funken Verstand bei ihr bemerkt. Sie habe die ganze Zeit über nur an ihr Hütchen denken können. Man stelle sich so etwas vor: Einen ganzen Tag zu vergeuden, indem man nur über einen Hut redet! James kann froh
Weitere Kostenlose Bücher