Sirenenfluch
hübsches junges Mädchen aus dem Ort ein, das spätnachmittags frische Süßkartoffelpommes anbot. Den Kunden, die nach einem langen Strandtag mit knurrenden Mägen am Gemüsestand warteten, um sich dort für die Abendmahlzeit einzudecken, stieg der verführerische Duft in die Nase. Zudem hielt Bert direkt neben dem Verkaufsstand ein paar Enten und zwei hübsche schwarze Schafe. Während ihre Eltern einkauften, durften Kinder die Tiere mit Körnerfutter verwöhnen, das man am Verkaufsstand erwerben konnte. Die Blumen baute Bertrand entlang der Straße an, damit die Dahlien und Sonnenblumen in all ihrer majestätischen Pracht von den vorbeifahrenden Leuten bewundert werden konnten. Er ließ sie frühmorgens von Humberto und Alma pflücken, sodass die beiden noch vor acht Uhr verschwunden waren, wenn die ersten Kunden eintrafen. Die alte Registrierkasse wurde in der Regel von Mr Archer höchstpersönlich bedient, seltener von Will oder seiner Mom. Er scherzte und plauderte mit den Kunden und ließ jeden wissen, dass dies sein kleines Familienunternehmen war. Er pries die selbst gebackenen Scones seiner Frau und die angeblich von ihm selbst arrangierten Blumen an (obwohl er kurz vorher Alma vorgeworfen hatte, es nicht schön genug gemacht zu haben). Den Stadtmenschen bot er ausreichend Lokalkolorit, sodass sie sich geschmeichelt fühlten, mit »waschechten« Einheimischen per Du zu sein – mit den Bauern, von denen dieses Stück Land bereits seit Generationen bestellt wurde. Das Salz der Erde.
Größtenteils war das ganze Gerede allerdings nichts als Schall und Rauch. Wills Vater war kein Landwirt, sondern Geschäftsmann.
Bertrand Archer konnte nichts Falsches daran finden. Für ihn war es einfach eine Rolle, die er spielte, so wie ein Zauberer. Die Leute kamen zu ihm, um genau diese Show zu sehen. Sie wollten es glauben. Dafür musste man noch nicht einmal zaubern können – man gab ihnen einfach das, was sie sehen wollten. Und so sorgte er dafür, dass das romantische Bild vom Landbauern am Leben erhalten wurde, und ließ die Dummen die Drecksarbeit machen.
Als Wills Vater noch klein gewesen war, hatte Shelter Bay nichts mit dem aufgetakelten Touristenort von heute gemein gehabt, in dem die Miete für einen fünf Straßen vom Strand entfernten Bungalow zehntausend Dollar pro Woche betrug. Genau genommen gehörte Zoes Familie auch zu diesem Sommervölkchen, denn sie wohnte die meiste Zeit des Jahres über in New York. Doch Zoes Großvater hatte das Haus im Jahr 1944 gekauft und ihr Dad hatte in seiner Kindheit gemeinsam mit Wills Dad Krebse gefangen. Aus diesem Grund wurden die Ellis’ gewissermaßen als Ehrenbürger von Shelter Bay angesehen und auch als solche behandelt. Will musste jedes Mal lachen, wenn er seinen Ökofarm-Dad neben dem tätowierten, verlottert aussehenden Johnny Ellis stehen sah. Aber wahrscheinlich geht es den Leuten nicht anders, wenn sie mich mit Zoe sehen, überlegte er.
Als Will zum Strand kam, wimmelte es dort nur so von emsig arbeitenden Menschen. Er stellte sein Motorrad ab und eilte die Stufen hinunter. An einigen Stellen war der Sand bereits von den wärmenden Sonnenstrahlen getrocknet worden, allerdings vermutete Will, dass er darunter noch nass war, da er unter seinen Füßen kaum nachgab. Eine hochgewachsene Gestalt stand neben dem umgestürzten Rettungsschwimmersitz und fotografierte einen Berg aus aufgetürmten Trümmerteilen.
»Angus!«, rief Will seinem Freund zu. »So machst du dich aber nicht gerade nützlich!«
»Will!« Angus umarmte ihn kumpelhaft. »Ich schieße hier nur ein paar Fotos für die Zeitung. Am Ende ist wahrscheinlich eh wieder keins gut genug, aber scheiß drauf. Als Praktikant bei der Gazette, Alter, ich sag’s dir, das ist echt der Traumjob schlechthin! Klick, klick, na komm schon, Baby, jaaa, das ist es, gib alles!« Dabei tat er so, als würde er ein erotisches Fotoshooting mit einem angespülten Stiefel veranstalten. »Verflucht, Mann, jetzt guck dir doch bloß mal dieses Chaos hier an!«
»Ehrlich gesagt hatte ich noch Schlimmeres befürchtet«, meinte Will.
Angus’ Miene verfinsterte sich. »Na ja, hier wurde nicht nur Treibholz angespült.«
Will wurde schlagartig übel. »Wie meinst du das?«
Angus senkte die Stimme. »Die haben ’ne Leiche gefunden, Mann, ’ne waschechte Leiche!«
»Was? Etwa ein Mädchen?«, fragte Will mit belegter Stimme.
»Nee, so ’nen Typen. Total zerfleddert, als ob er in ’ne Schiffsschraube oder so was
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