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Sirenenfluch

Sirenenfluch

Titel: Sirenenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Papademetriou
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glücklicherweise nicht. Die alte Eiche war auf das Schrägdach geprallt und dann entlang der Wand heruntergerutscht, wobei mehrere Fenster zu Bruch gegangen und diverse zarte Setzlinge zerstört worden waren. Wäre der Baum nur einen halben Meter länger gewesen, hätte er das Gewächshaus völlig zerstört. Nun lag die Eiche wie ein umgefallener Riese neben dem Haus. Am unteren Ende befand sich immer noch die Wurzel, die einen riesigen Krater in der Erde hinterlassen hatte.
    Will lief zu seinem Vater, der gerade dabei war, den Baumstamm in fünfundvierzig Zentimeter lange Stücke zu zersägen. Gerade groß genug für ihren Ofen, mit dem sie den Winter hindurch das Haus beheizten. Verwundert registrierte Will, dass sein Vater das Sägen selbst übernommen hatte. Normalerweise überließ er Humberto die schweißtreibenden Arbeiten auf dem Hof. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass Humberto an diesem Morgen keine Zeit hatte.
    »Soll ich das hier schon mal zum Schuppen bringen?«, schrie Will gegen die kreischende Motorsäge an.
    Mr Archer, der eine dicke Plastikschutzbrille trug, sah zu Will auf. Fragend legte er die Stirn in Falten und drosselte den Motor, sodass die Kettensäge nur noch leise vor sich hin tuckerte. »Was hast du gesagt?«
    Will wies mit einer Kopfbewegung auf den Schuppen. »Soll ich schon mal anfangen, das Holz aufzustapeln?«
    »Das macht Carl später, wenn er rüberkommt«, antwortete Wills Vater.
    »Dann kann ich mich doch um die zerbrochenen Scheiben kümmern«, bot Will an.
    »Carl und ich übernehmen das später«, sagte Mr Archer. Er blickte Will sanft an. »Lass du es mal ruhig angehen.«
    Will stöhnte entnervt auf. »Dad, mit mir ist alles in Ordnung.«
    »Dann sieh einfach zu, dass die Tiere heute Abend versorgt werden, und guck mal nach, was mit dem Gatter nicht stimmt. Morgen kannst du mir dann helfen. Den Gemüsestand lasse ich heute noch zu, aber zum Wochenende hin müssen wir wieder geöffnet haben. Das Sommervölkchen braucht unbedingt sein Gourmetgemüse.«
    Will versuchte, den aufsteigenden Ärger hinunterzuschlucken. Einerseits konnte er es seinem Vater nicht übel nehmen, schließlich meinte er es nur gut. Andererseits drückte er dies auf sehr eigenwillige Art und Weise aus. Selbst wenn er Will gegenüber freundlich war, ließ er keinen Zweifel daran aufkommen, wer für ihn an erster Stelle stand – der Kunde. Was er auch tat, es war eine durchkalkulierte Gewinn- und Verlustrechnung.
    Will blieb einen Moment lang stehen und sah seinem Vater bei der Arbeit zu. An und für sich wäre es ihm lieber gewesen, selbst ein bisschen zu arbeiten, allerdings hatte er keine Lust, das erklären zu müssen. So wie es aussah, konnte er die ihm zugewiesenen Aufgaben genauso gut später noch erledigen. Länger als eine Stunde würde er dafür sicherlich nicht brauchen. Will setzte sich in Richtung des Hauses in Bewegung, aber als er das Auto seiner Mutter in der Auffahrt erblickte, ging er stattdessen zur Garage. Die hat mir gerade noch gefehlt!, dachte er.
    Seine Augen brauchten einige Zeit, um sich an das schwache Licht in der muffigen Garage zu gewöhnen. Wie immer fiel sein Blick zuerst auf das helle Holzpaddel, das über der kaum benutzten Werkbank seines Vaters hing. »Segel-Preis« stand darauf. Tim hatte ihn mit zwölf Jahren im örtlichen Segelverein gewonnen und Will hatte ihn stets darum beneidet. Tim war ein hervorragender Segler gewesen … und was hatte es ihm gebracht?
    Will konnte sich noch genau an das sanfte Schwanken unter seinen Füßen erinnern, als er neben seinem Bruder an Bord der Vagabond gegangen war. Das war in jener Nacht gewesen, in der Tim verschwunden war. Das Meer hatte in der Sonne geglitzert. Als Will über die Bucht hinaus auf die offene See geschaut hatte, hatte ein dunkler Schatten, der sich deutlich gegen die goldenen Lichtspiele auf der Wasseroberfläche abhob, seine Aufmerksamkeit erregt. Doch bevor er ihn Tim zeigen konnte, war der Schatten auch schon wieder verschwunden gewesen. Es hätte ein Schwimmer sein können, allerdings ziemlich weit draußen im Wasser. Will war letztendlich zu dem Schluss gekommen, dass er es sich eingebildet haben musste.
    In diesem Moment musste er wieder an das Mädchen vom Vortag denken.
    Will versuchte, den Gedanken zu ignorieren. Ob er sich je daran gewöhnen würde, dass für ihn jede Situation einem gedanklichen Minenfeld glich? Einfach alles in seinem Leben war untrennbar mit Tim verbunden. Sein Fehlen war ein stiller

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