Sirenenfluch
– ihm gehört ein Weinberg oben in North Fork. Wir würden gerne seinen Wein an unserem Stand verkaufen.«
Wills Mutter saß schweigend auf dem Sofa und nippte an der hellen, bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ihrem Glas.
»Brauchst du denn nicht eine Lizenz, um Alkohol verkaufen zu dürfen?« Will schüttelte den Kopf, als sein Vater ihm ein Glas Wein hinhielt. »Nein danke.«
»Möglicherweise nicht, wenn der Kunde ihn bei euch bestellt«, entgegnete Mr Jameson. Er erinnerte Will an einen dieser alternden Soapdarsteller: groß, graumeliertes, nach hinten gegeltes Haar, braun gebrannt und immerzu ein strahlendes Lächeln auf den Lippen. »Wir sind noch dabei, einen Plan auszutüfteln, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass unsere Lieferungen bereits am Tag der Bestellung bei Ihnen eintreffen werden.«
»Die Leute werden uns die Bude einrennen wegen dieses Sauvignon blanc«, schwärmte Mr Archer. »Bist du sicher, dass du nichts davon möchtest, Will?«
»Er ist wirklich köstlich«, sagte Mrs Archer leise.
»Ich wollte gleich noch mit dem Motorrad weg«, sagte Will.
»Nur einmal nippen?« Mr Jameson lachte.
Will rang sich ein müdes Lächeln ab. In Wahrheit verabscheute er Wein. Bier genauso. Allerdings hatte er keine Lust, das Mr Ich-war-mal-Seifenopernstar zu erklären.
»Mein abstinenter Sohn«, sagte Wills Vater und rollte mit den Augen. »Wo willst du denn hin?«
»Nur ein bisschen in die Stadt.«
»Du denkst aber schon daran, dass du danach eine Schicht hast, oder?«, erinnerte Mrs Archer ihn.
»Wie könnte ich das vergessen!«
Mr Archer winkte seinen Sohn hinaus und rief: »Na los doch, raus mit dir! Amüsier dich schön!« Er ließ ein aufgesetztes, herzliches Lachen erklingen, bei dem Will fast schlecht wurde.
Er winkte und ging zu seinem Motorrad. Hastig zog er sich den Helm über den Kopf und startete die Maschine. Der Motor heulte laut auf und Will jagte ihn noch ein paarmal hoch, bevor er die Auffahrt hinunterfuhr.
Er heizte die Straße entlang und fühlte sich mit jedem Meter, der zwischen seinem Vater und ihm lag, erleichterter. Will spürte genau, dass sein Vater vor den anderen Leuten jedes Mal eine bühnenreife Show abzog. Ihm fehlte dafür jegliches Verständnis. Zudem machte es ihn wütend, dass dieses Schauspiel seinen Vater offenbar all seiner Energie beraubte, denn sobald sie allein waren, sprach er kaum ein Wort mit Will.
Er stellte sein Motorrad ab, verstaute seinen Helm und ging schließlich zum Schaufenster. Er betrachtete eingehend die goldene Zierschrift auf der Tür und fuhr dabei jeden Buchstaben mit den Augen nach: Edelantiquitäten Worthington. Will schob seine Daumen unter die breiten Tragegurte seiner wasserdichten Kuriertasche und zog sie höher auf seine Schultern. In der Glastür warf er einen kurzen Blick auf sein Spiegelbild. Unter der Sonnenbräune wirkte seine Gesichtsfarbe matt und fahl. Er hatte eine traumreiche Nacht hinter sich. Er war mit Tim surfen gewesen, sie hatten gelacht und sich in den Wellen getummelt. Erst als er langsam aufgewacht war, hatte sich der Traum zum Albtraum entwickelt. Tim war tot und das Mädchen mit den grünen Augen vielleicht auch, wo auch immer es sein mochte.
Schließlich legte Will seine Hand auf den Messinggriff und öffnete die Tür.
Der Ladenbesitzer, ein feiner älterer Herr, dekorierte gerade eine Glasvitrine, als Will den kühlen schummrigen
Laden betrat. Sein Kopf erschien kurz über der Ladentheke. »Ich bin gleich bei Ihnen«, sagte er, um wie ein Erdmännchen sofort wieder in seinem mit Antiquitäten ausstaffierten Loch zu verschwinden.
Will nutzte den Moment, um sich im Laden umzusehen. Links von ihm stand ein großer Schreibtisch. Er war kunstvoll verziert mit geschnitzten Köpfen von Löwen und anderen exotischen Tieren. Die Tischfüße waren Klauen, die eine Kugel umschlossen hielten. Der Schreibtisch war von beachtlicher Größe und so konstruiert, dass man von beiden Seiten daran Platz nehmen konnte. Fasziniert betrachtete Will das Möbelstück eingehend von allen Seiten.
»Dies ist ein Doppelschreibtisch aus dem 19. Jahrhundert«, erklärte der ältere Herr. »Daran konnten sie sich gegenübersitzen und haben vermutlich über Budgetfragen diskutiert.«
»Es steht kein Preis dran«, bemerkte Will.
»Dieses Objekt kostet vierzigtausend Dollar«, sagte der Herr.
Will lachte auf. »Tja, da kann ich ja von Glück sagen, dass ich bereits einen Schreibtisch besitze.«
Der Ladenbesitzer lächelte, was
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