Sirenenfluch
Das Meer war schwarz von Leibern, als Calypso und ihre Horde über die Matrosen herfielen. Sie trugen abgewetzte Lumpen aus den Fellen von Seehunden und anderen Meeresbewohnern und es verlieh ihrem Aussehen etwas animalisch Wildes. Nicht einer der Männer, die über Bord sprangen, tauchte wieder auf. Das Wasser färbte sich blutrot.
Ein Rettungsboot nach dem anderen brachten sie zum Kentern. James hatte seine Männer aufgefordert, alle Boote zu bemannen, doch als er nun sah, was geschah, rief er sie wieder zurück. Er trug eine Pistole bei sich, mit der er nun auf die Seekrieger schoss. Auch einige andere griffen daraufhin zu ihren Feuerwaffen, doch die meisten besaßen keine solche, und viele kämpften bereits im Wasser um ihr Leben.
Ich näherte mich dem Schiff, so weit ich es wagte, doch ich fürchtete, dass er auch auf mich zielen würde. Er wusste ja nicht, dass ich dort war, um ihn zu retten. Wie sollte er auch?
Eine Seekriegerin versuchte gerade, an der Schiffswand an Bord zu klettern, da zielte er auf sie und drückte ab. Die Wucht des Geschosses riss sie nach hinten und sie stürzte ins Wasser.
Doch direkt dahinter folgte noch eine Seekriegerin. Ich erkannte sie an dem silberfarbenen Haar und den violetten Augen. Es war Calypso. Sie streckte die Hand nach James aus, da drückte er noch einmal ab – doch das Magazin war leer.
Ich tauchte zu ihnen hinüber, und als ich ankam, zerrte Calypso ihn gerade unter Wasser. Er blickte sich um und musste mit ansehen, wie seine Männer reihenweise niedergemetzelt wurden, und in seinem Blick spiegelte sich blankes Entsetzen. Ich spürte seine Schuldgefühle – dies waren seine Männer und er hatte sie nicht retten können.
Ich rief Calypso und sie blickte sich verwundert um.
Ein mattes Lächeln breitete sich langsam auf ihrem Gesicht aus und entblößte ihre Zähne, von denen nur noch abgewetzte Stümpfe übrig waren. Ihre riesigen Augen blinzelten mich in der Abenddämmerung wissend an. Unsere letzte Begegnung lag viele Jahre zurück, dennoch erkannte sie mich sofort. Sie rief mich.
James sah mich aufmerksam an, so als könne er mit meinem Namen etwas anfangen. Gut möglich, dass Melia ihm von mir erzählt hatte.
Ich teilte Calypso mit, dass ich wegen James hier war, woraufhin sie ihn mit neu erwachtem Interesse betrachtete wie einen Schatz, dessen Wert ihr bis dahin nicht bewusst gewesen war.
›Was gibst du mir für ihn?‹, fragte sie mich.
Ich antwortete ihr, dass ich bereit wäre, ihr zu geben, was immer sie verlangte.
Da betrachtete sie James einen Augenblick lang eingehend und lächelte ihr seltsames Hai-Lächeln. In dem Moment war ich fast sicher, dass sie ihn töten würde, entweder indem sie ihm die Kehle durchbiss oder ihm das Herz herausriss. Zu meiner großen Verwunderung jedoch lockerte sie ihren Griff und ließ ihn los.
Ich packte ihn. Er war stark, wehrte sich mit Händen und Füßen, doch nicht stark genug. Ich schaffte es, ihn zu bändigen.
›Du gibst mir, was immer ich verlange‹, sagte Calypso.
Das Meer um uns her war ruhig geworden. Hier und dort tauchten aus dem blutgefärbten Wasser spitze Rückenflossen auf. Die Haie hatten das Blut gerochen. Ich sah auch einige aus Calypsos Gefolgschaft. Sie alle hatten spitze Zähne und riesige Augen. Und ihre Haut leuchtete hell in der zunehmenden Dämmerung.
Ich fragte Calypso, wie nun ihre Forderung lautete, und sie antwortete, das müsste sie sich erst noch überlegen. ›Ich werde dich dann rufen‹, sagte sie.
Das Gefühl, das mich in diesem Moment überkam, ist schwer in Worte zu fassen. Es graute mir vor der Zukunft – vor der Ungewissheit bezüglich ihrer Forderung. Daran dachte ich inmitten eines Meeres aus Blut. Calypso schob ihre Lippen zurück und bleckte ihre grässlichen Zähne. Da spürte ich, wie etwas mein Bein streifte – ein Hai. Ich wusste sehr wohl, dass er mir nichts tun würde … er wollte James.
Calypso lächelte einfach nur. Sie wusste ebenso gut wie ich, dass keine von uns je ein Versprechen brechen würde. Andernfalls müsste unsere Seele sterben. Wir würden zwar weiterleben, jedoch völlig geistlos. Wie ein Fisch im Wasser, ohne die geringste Selbstwahrnehmung. Ein Zombie, um es mit euren Worten zu sagen. Ich blickte mich im Wasser um. Die anderen Seekrieger hatten uns umzingelt und ich konnte ihre Blutgier förmlich riechen. Gegen sie alle zu kämpfen war undenkbar. Und selbst wenn, James hätten sie in jedem Fall getötet.
Dabei hatte ich doch in meinem
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