Sirenenfluch
kennengelernt.«
»Stimmt.«
»Soll ich noch den Rest erzählen?«
»Ich brauche eine kurze Verschnaufpause.«
»Wir können es auch für heute gut sein lassen«, schlug Asia vor.
Am anderen Ende der Bibliothek führte die Mutter eine Auseinandersetzung mit ihrem Sprössling und verkündete ihm, dass es nun an der Zeit sei, nach Hause zu gehen. In der Welt dort draußen nahm das Leben seinen Lauf, ganz alltäglich und doch rätselhaft. Diese zwei Dinge brachte Will einfach nicht zusammen.
»Nein«, entschied Will. »Wir können hier nicht aufhören.«
»In Ordnung.« Sie faltete die Hände in ihrem Schoß und starrte sie an. »Wo waren wir stehen geblieben? Ach richtig, bei dem Jungen. Ich kümmerte mich einige Wochen lang um ihn. Aus Wochen wurden Monate. Er brachte mir Englisch bei und ich lehrte ihn meine Sprache. Er war geradezu verrückt nach mir und wollte jede Minute an meiner Seite sein. Jeden Tag wurde er mehr wie ich. Als er eines Nachts im Schlaf eines meiner Lieder sang, wusste ich, dass die Zeit gekommen war, ihn zurück zu seinesgleichen zu bringen. Doch ich hatte ihn sehr lieb gewonnen und so widerstrebte es mir, ihn schutzlos am nächsten Hafen zurückzulassen. Ich wollte ihm zunächst einen Ort suchen, an dem er bleiben könnte.
Es war Nacht, als ich das Ufer erreichte, und von einer Wäscheleine stahl ich mir passende Kleider. Obwohl es bereits Anfang November war, fühlte sich die Luft einigermaßen warm an. Die Kleider waren dennoch ganz steif vor Kälte. Ich musste sie kräftig ausschütteln, bevor ich sie anzog. Dann wartete ich ab. Am nächsten Morgen schlenderte ich an den Marktbuden entlang und schnappte einige Gesprächsfetzen auf. Eine seltsame Stimmung lag über der Stadt – jedermann sprach von einem bevorstehenden Strafprozess. Die Luft schwirrte von düsteren Emotionen – Angst, Erregtheit, Gerechtigkeitssinn und Wut.
Ich gab vor, einen Haufen Kartoffeln zu begutachten, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung ausmachte. Es war eine Geste, die mir merkwürdig vertraut vorkam. Als ich mich umdrehte, sah ich Melia am nächsten Stand stehen. Sie trug ein graues Kleid und hatte das rote Haar unter einer einfachen grauen Haube hochgesteckt. Doch nichts konnte ihre Schönheit verbergen.
Sie muss meinen Blick gespürt haben, denn sie drehte sich um. Als sie mich sah … nun, es fällt mir schwer, die Gefühlsregung, die sich in diesem Augenblick auf ihrem Gesicht spiegelte, zu beschreiben. Sie blickte zutiefst erschüttert. Ihr Blick traf den meinen, doch sie schien abwesend zu sein, in einem weit entfernten Traum. Ich spürte ihre Verwirrung, die sich allmählich zu lichten begann wie Nebelschwaden. In dem Moment kehrte der Ausdruck in ihre Augen zurück und sie begriff, wer ich war – was ihr bis dahin nicht bewusst gewesen war.
Neben meiner Schwester stand ein hübsches junges Mädchen. Sie war ebenso gekleidet wie Melia – in schlichtes Grau, mit einem Tellerrock und einer sauberen weißen Schürze. Sie war schmal gebaut, hatte hellblondes Haar, große blaue Augen und ein liebliches, herzförmiges Gesicht. Das Mädchen betrachtete mich eingehend und legte Melia eine Hand auf den Arm, woraufhin sie sich wieder fasste. Sie sprach kurz mit dem Mädchen und es nickte. Dann schenkte es mir ein Lächeln und ging über den Markt davon. Melia kam auf mich zu.
Ich bat sie, noch in jener Nacht mit mir zur Insel zurückzukehren. Wir wussten schließlich beide, dass es an diesem Ort nicht sicher für sie war. Unter euch Menschen sind wir nie sicher gewesen – jedenfalls nie für sehr lange. Ich hatte das Bedürfnis, Melia einfach nur zu packen und mit ihr zu fliehen – fort von all diesen Leuten. Ich konnte die Wut, die in der Luft lag, förmlich riechen – wie beißenden Rauch. Und ich wusste genau, dass sie mich töten würden, wenn sie wüssten, was ich war.
Doch für Melia kam eine Flucht nicht infrage. Sie hatte sich in den Seemann verliebt, dem sie das Leben gerettet hatte, James Newkirk, und er erwiderte ihre Gefühle. Sie sagte, lieber wolle sie für eine kurze Zeit mit ihm zusammenleben, selbst wenn sie ihn dann verlöre, als eine Ewigkeit ohne ihn verbringen zu müssen. Sie wolle jeden Tag nutzen, der ihr geschenkt sei. Ganz gleich, ob es nun dreißig Jahre sein würden oder fünfzig oder nur fünf. Und sei es nur für den einen Augenblick. Sie liebte ihn. Alles andere zählte für sie nicht.
Ich flehte sie an, sich noch einmal daran zu erinnern, wie man uns gejagt
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