Sirenenfluch
zur See ginge.‹
Ich erinnere mich noch genau, wie mein Herz beim Lesen dieser Zeilen vor Angst zerspringen wollte. Von Elisabeth erfuhr ich, dass James’ Schiff bereits zehn Tage zuvor mit Kurs auf Südamerika in See gestochen war.
Ich stürmte die Treppenstufen in einem derartigen Tempo hinunter, dass ich um ein Haar den Jungen umgerannt hätte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht brachte mich dazu, stehen zu bleiben. Ich drehte mich zu Elisabeth um, die noch immer im Hauseingang stand und mir nachsah. Ich bat sie, für meinen Jungen Sorge zu tragen, und dann zog ich davon. Ich musste zum Meer.
Die Weiten des Ozeans sind schier unermesslich. Ihr mögt zwar hier am Rande des Wassers leben, dennoch könnt auch ihr diese unvorstellbare Dimension nicht vollends erfassen. Mir hingegen waren die verschiedenen Seestraßen einigermaßen bekannt. Und ich wusste nur zu genau, dass James’ Schmerz sehr, sehr weit über das Wasser getragen würde.
Meinen eigenen Schmerz jedenfalls empfand ich als so weittragend wie die endlose See vor mir.
Drei Tage lang schwamm ich ohne Pause. Vor der Küste von Georgia holte ich sie schließlich ein. Das Meer war gespenstisch ruhig geworden, und da wusste ich es ganz sicher – Calypso musste in der Nähe sein. Allerdings konnte ich sie nirgendwo erblicken – und auch sonst war niemand von ihrer Horde zu sehen. Ich blieb in unmittelbarer Nähe zum Schiff und wartete ab. Das Schiff segelte noch zwei weitere Tage lang in Richtung Süden.
Ab und an sah ich James am Bug des Schiffes stehen. Sogar ohne seine Kapitänsuniform hätte ich ihn sofort erkannt, denn die Ähnlichkeit mit seiner Schwester war verblüffend. Sowohl das blonde Haar als auch die blauen Augen erinnerten an Elisabeth, jedoch lag auf ihrem Gesicht ein lieblicher, unschuldiger Ausdruck, wohingegen er vielmehr eine große Weisheit und Mitgefühl ausstrahlte. Und Traurigkeit.
Dann drehte der Wind ganz plötzlich. Und die steife Brise trug das Lied an mein Ohr – Calypsos Lied. Es war melancholisch und wunderschön anzuhören, selbst ich fühlte mich davon angezogen. Wie sollten da erst die Seeleute einem solchen Lied widerstehen können? Wo sie sich noch nicht einmal bewusst waren, dass sie es hörten. Die Musik drang ebenso unauffällig in ihren Verstand ein wie ein Gedanke, und ohne zu wissen wie, waren sie bereits vom Kurs abgekommen.
Zunächst war ich mir nicht im Klaren darüber, welche Absichten sie hegte. Eines jedoch wusste ich mit Sicherheit, dass auch zweitausend Jahre Calypsos Rachsucht nicht hatten stillen können. Wahrscheinlicher war, dass ihr Blutdurst im Laufe der Zeit nur noch größer geworden war. Ich vermute sogar, dass die ursprüngliche Kränkung – Odysseus, Telemachos, Penelope – im Grunde für sie gar nicht mehr von Belang war. Vielmehr war sie zu einem Gefäß des Zorns und des Blutrauschs geworden. Sie tötete um des Tötens willen.
Einen weiteren halben Tag lang lockte sie die Seeleute fort. Die Sonne ging bereits unter und tauchte den Horizont in ein rotgoldenes Licht. Das Meer war ruhig, doch da wir mittlerweile recht weit im Süden angelangt waren, erschien uns das schöne Wetter nicht außergewöhnlich. Das Wasser war warm und die milde Brise streichelte mir über das Gesicht.
Das Schiff war ein dreimastiger Schoner, ziemlich groß und schön anzusehen. Als Galionsfigur besaß es eine geschnitzte Meerjungfrau mit bloßen Brüsten und langem blondem Haar. Das Schiff glitt geschmeidig dahin und hinterließ eine weiße Spur in seinem Kielwasser.
Bisher waren sie nicht sehr weit vom Kurs abgekommen. Calypso hatte offenbar nicht vor, die Mannschaft in ein Unwetter oder zu einer mir bekannten Insel zu führen. Grübelnd betrachtete ich das Schiff. Dann beschloss ich, eine Zeit lang nebenherzuschwimmen.
Und dann sah ich, was ihr Plan war. Sie lockte sie zu einer Felsengruppe. Diese befand sich unter der Wasseroberfläche, weshalb die Seeleute sie nicht bemerkten. Ich hingegen sah sie deutlich.
Was hätte ich tun sollen? Es war bereits zu spät – das Schiff hielt direkt auf die Felsen zu und binnen kürzester Zeit hatten die scharfen Felskanten steuerbords ein großes Loch in den Rumpf gerissen.
Mit einem Ächzen wurde das Schiff emporgehoben und die Seeleute hatten allergrößte Mühe, sich in Boote zu retten. Einige sprangen in ihrer Verzweiflung über Bord, als das Schiff sich auf die Seite rollte wie ein alter Hund.
Binnen einer Sekunde wimmelte es im Wasser nur so von Seekriegern.
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