Sisters of Misery
«
»Und du willst den liebsten Menschen, den du auf der Welt hast, hier zurücklassen?« Rebecca sah Maddie an, formte mit den Lippen das Wort mich und zeigte dann auf sich. »Ganz allein?«
»Hey, es war deine Entscheidung herzukommen, nicht meine. AuÃerdem kannst du nicht wirklich behaupten, dass du allein bist, solange es noch Menschen auf dieser Erde gibt«, sagte Cordelia grinsend. Rebecca drohte ihrer Tochter lächelnd mit erhobenem Finger. »Komm schon, Mom, lass mich die Runensteine für dich lesen.«
Als Maddie ihren fröhlichen Neckereien zuhörte, fühlte sie sich plötzlich wie das fünfte Rad am Wagen. Cordelia und Rebecca verstanden sich viel besser als alle anderen Mütter und Töchter, die sie kannte, und ihre Beziehung war viel inniger als die zu ihrer eigenen Mutter.
Maddies Freundinnen hatten keine besonders hohe Meinung von ihren Eltern und verbrachten eigentlich nur in den Ferien oder an Feiertagen, an denen es Geschenke gab, Zeit mit ihnen. Und selbst dann berechnete sich das Maà der Zuneigung fast immer anhand des Geldwerts der Geschenke.
»Warum sagst du nicht Maddie die Zukunft voraus?« Rebecca
lächelte sie an. »Du willst doch bestimmt gerne wissen, was die Zukunft für dich bereithält, oder?«
»Nein, ist schon okay. Ich muss jetzt sowieso nach Hause gehen und Mom beim Abendessen helfen.« Maddie wünschte sich nichts sehnlicher, als zu bleiben, um mehr über das Wahrsagen zu erfahren und Geschichten von ihren Reisen und all den spannenden Menschen zu hören, die sie in Kalifornien gekannt hatten. Aber sie wusste, dass ihre Mutter fuchsteufelswild werden würde, wenn sie ihre Aufgaben im Haus noch mehr vernachlässigte.
Während Maddie ihre Sachen zusammensuchte, schloss Cordelia die Augen und schob ihre Hand in das schwarze Säckchen mit den Runen-Steinen. Dann zog sie sie wieder heraus, öffnete die Faust und hielt Rebecca den offenen Handteller hin. Gemeinsam betrachteten sie den Stein, auf dem jedoch kein Runen-Symbol zu sehen war. Cordelia drehte ihn um.
»Hey, der hat irgendeinen Fehler. Da steht ja gar nichts drauf.«
Rebecca blätterte im Runen-Handbuch. »Nein, das ist schon richtig so. Das ist die Odins -Rune, auch Wyrd genannt«, las sie laut vor, »die sogenannte Schicksals-Rune, die für das Unerkennbare steht, also für das, was nicht vorhergesehen und kontrolliert werden kann. Allein das Schicksal bestimmt den Ausgang.«
Cordelia riss die Augen auf. »Uhhhh, ganz schön gruselig«, kicherte sie und rutschte von dem Tisch, auf dem sie gesessen hatte. »Hast du das gehört, Maddie? Meine Zukunft ist unvorhersehbar und unkontrollierbar. «
Maddie wurde plötzlich übel, als sie sich an den Traum von Cordelia auf Misery Island erinnerte. Sie hatte die Sisters of Misery ihr gegenüber ein paarmal erwähnt, ohne groà ins Detail zu gehen, aber Cordelia hatte nur darüber gelacht und
den Bund mit irgendwelchen albernen Studentenvereinigungen verglichen, wie es sie an den Unis gab.
»Ich brauche keinen Stein, um zu wissen, dass du unkontrollierbar bist, mein Schatz«, witzelte Rebecca. Sie zündete ein »Erntedank«-Räucherstäbchen an, das den Laden mit einem heimeligen Herbstduft von Zimt, Muskat, Nelken und Ãpfeln erfüllte.
Maddie lächelte wehmütig. Sie wäre gern noch ein bisschen länger in dem gemütlichen Laden geblieben. Widerstrebend verabschiedete sie sich trotzdem winkend von den beiden und machte sich auf den Heimweg. Zu Hause wartete ihre Mutter garantiert schon mit der nächsten Strafpredigt auf sie.
Abigail lieà sich keine Gelegenheit entgehen, ihre Tochter darauf hinzuweisen, was sie in letzter Zeit versäumt hatte. Maddie hatte nicht an der Hockeytrainingswoche teilgenommen; Maddie war nicht auf der Party der Endicotts gewesen; Maddie hatte beim letzten Segeltreffen nicht die erforderliche Platzierung erreicht, um zur Preisverleihung in den Yachtclub eingeladen zu werden. Alles, was Maddie nicht getan hatte, verkörperte das, was ihre Mutter nicht für sie tat - sie bedingungslos zu lieben.
Als sie nach Hause kam, war ihre Mutter gerade dabei, mal wieder wie besessen die Küche zu putzen. Sie widerstand dem Bedürfnis, einfach in ihr Zimmer hinaufzulaufen, bevor ihre Mutter sie sah und auffordern konnte, ihr beim Putzen zu helfen, und ging stattdessen zu ihr in die
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