Sisters of Misery

rührselige Inszenierung, die die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen sollte und zweifellos im ganzen Land ausgestrahlt und möglicherweise sogar weltweit in den Zeitungen veröffentlicht werden würde. Zumindest einen Tag lang, oder auch zwei. Aber ganz gleich wie viele Bewohner von den lokalen Sendern interviewt oder wie viele Polizeibeamte ausgesandt wurden, um die Stadt abzusuchen - eines war deutlich zwischen den Zeilen zu lesen: Cordelia war keine von ihnen. Rebecca LeClaire stammte zwar ursprünglich aus Hawthorne, aber sie hatte die Stadt nun mal schon vor langer Zeit verlassen, weshalb Cordelia lediglich eine Zugereiste war, nach der man nicht mit der gleichen Hartnäckigkeit suchte, mit der man nach einer Einheimischen gesucht hätte. Nicht dass das irgendjemand laut ausgesprochen hätte. Es war ihnen nur einfach ganz deutlich anzumerken - von den Mitarbeitern der Stadtverwaltung über die Polizeibeamten bis hin zu den freiwilligen Helfern.
    Wenn jemand auf die Weise verschwindet, auf die Cordelia verschwunden war, hinterlässt er Echos und Schatten, genau wie ein seiner Möbel und Bewohner beraubtes Zimmer. Im Laufe der Ermittlungen begannen seltsame Geschichten in der Stadt zu kursieren. Jeder in Hawthorne behauptete, Cordelia an dieser oder jener Stelle gesehen zu haben. Sie habe in der Dämmerung Glühwürmchen gejagt und im Mondschein auf dem Old Burial Hill getanzt.
    Doch, doch, ich erinnere mich genau, dass ich gesehen habe, wie das Mädchen nachts durch die Straßen streifte. Und immer war
sie mit einem anderen Jungen unterwegs. Solche Mädchen müssen sich nicht wundern, wenn sie eines Tages für ihren Leichtsinn bezahlen müssen.
    Â 
    Die kleine LeClaire? Hab sie neulich noch gesehen, als sie wie immer nach der Schule an unserem Laden vorbeikam. Ich hatte gerade einen Ständer mit reduzierten Kleidungsstücken rausgestellt und erinnere mich, dass sie kurz stehen blieb und einen dieser bunten Flickenröcke vom Ständer nahm. Sie hielt ihn sich an den Körper und drehte sich damit ein paarmal im Kreis herum. Nein, gekauft hat sie ihn nicht. Ihn nur wieder an den Ständer zurückgehängt.
    Â 
    Die Tochter von Rebecca LeClaire? Das Mädchen vom Blumenladen? Jetzt wo Sie’s sagen, erinnere ich mich, sie an dem Tag gesehen zu haben, als ich in der Post war. Sie stand vor mir in der Schlange und hatte einen Brief in der Hand, der über und über mit Schmetterlingen und Herzchen bemalt war. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass sie ein wirklich seltsames Mädchen ist.
    Die gewöhnlichsten und banalsten Dinge, mit denen ein junges Mädchen seinen Alltag verbrachte, wurden jetzt plötzlich offiziell dokumentiert und festgehalten, und zwar mit Uhrzeit, Datum und Ort. Weil sie verschwunden war, wurde auf einmal allem eine höhere Bedeutung beigemessen. An wen war der Brief adressiert gewesen? War sie mit dem Empfänger dieses Briefes durchgebrannt? Waren die Herzen auf dem Umschlag das Zeichen einer heimlichen Liebe? Die Gerüchte und Geschichten vermehrten sich von Minute zu Minute.
    Aber allen Spekulationen zum Trotz ergaben sich daraus keine brauchbaren Hinweise zu Cordelias Verschwinden. Es war, als wäre sie einfach davongewirbelt und hätte mit dem Saum ihres langen Rocks die Spuren hinter sich verwischt.

    Außer Rebecca, Tess und Maddie gingen alle davon aus, dass sie einfach von zu Hause ausgerissen sei - so wie schon damals in Kalifornien, kurz nachdem ihr Vater gestorben war. Sie war sechzehn, ungestüm, aufsässig und freiheitsliebend und hatte die nächstbeste Chance genutzt, aus Hawthorne abzuhauen. Fall abgeschlossen.

    Â»Ich kann mir immer noch nicht erklären, was dort draußen passiert ist«, sagte Maddie zu den anderen Mädchen, als sie nach der Kerzenmahnwache alle bei Kate im Zimmer saßen. Seit Cordelias Verschwinden waren mittlerweile achtundvierzig Stunden vergangen, und die Hoffnung, dass sie wieder auftauchen könnte, wurde von Minute zu Minute geringer.
    Â»Schsch!«, machte Kate. Die Mädchen zappten auf dem riesigen Flachbildfernseher hektisch zwischen den Sendern hin und her und hofften darauf, ihre Gesichter in den Nachrichten zu sehen.
    In einer Werbepause versuchte Maddie noch einmal, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. »Warum war das Ritual in dieser Nacht so anders als sonst? Was sollte das mit der Reinigung durch die Elemente? Und was war