Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
Vom Netzwerk:
typisch für eine Toilette sind, wie etwa auf einer Bahnhofstoilette oder in manchen Bars, wo sie uneingeschränkt vorherrschen. Im äußersten Fall tritt am Ende eines Tages eine Art Neutralisierung ein, die nicht mehr den Eindruck von Hygiene,ebensowenig aber ein Fehlen von Hygiene vermittelt, es handelt sich dann gewissermaßen um einen Geruch nach nichts beziehungsweise um überhaupt keinen Geruch mehr. Wie dem auch sei, weder zu Beginn des Schultags noch am Mittag, noch bei Schulschluß ist auch nur der leiseste Hauch von Zigarettengeruch zu bemerken, kein noch so flüchtiger Rest liegt in der Luft, durch den auf einen Schüler geschlossen werden könnte, der zuvor in der – freilich nicht ganz vollkommenen – Privatsphäre der durch Zwischenwände voneinander abgetrennten Räume eine Zigarette angezündet hätte, um deren Rauch anschließend zu inhalieren und danach wieder auszuatmen oder aber bloß auszupusten, ohne überhaupt inhaliert zu haben, wie es viele Jugendliche beim Rauchen machen – bei dem, was sie für Rauchen halten. Mit Ausnahme ihres Vaters ist der einzige Mensch, dem María Teresa bislang genauer beim Rauchen zugesehen hat, in jedem Fall Francisco.
    Herr Biasutto hat einstweilen noch kein Interesse am weiteren Verlauf ihrer Nachforschungen gezeigt, weshalb er auch nicht weiß, welche Gestalt diese inzwischen angenommen haben, dennoch ist sich María Teresa sehr wohl bewußt, daß der Chef der Aufseher, sollte es ihr gelingen, einen unwiderlegbaren Beweis für das Vorkommen solcher Unregelmäßigkeiten zu erbringen – vorerst beschränkt sie sich da ja noch auf Mutmaßungen –, sich ihr gegenüber sehr zufrieden zeigen würde. Seit einigen Tagen wirkt er noch beschäftigter als sonst, vielleicht ist er deshalb noch nicht wieder auf die Angelegenheit zu sprechen gekommen. Doch auch so vergißt er nie, ihr eine kleine Geste zukommen zu lassen, wenn sie sich im Flur oder im Aufseherzimmer über den Weg laufen, fürgewöhnlich bleibt es bei einer nicht genauer bestimmbaren Handbewegung, die sich aber in jedem Fall als Ausdruck von Respekt oder Zuspruch auffassen läßt oder wenigstens zu verstehen gibt, daß er ihr Gespräch von vor ein paar Tagen, bei dem es durchaus nicht um Alltägliches ging, sehr wohl noch im Kopf hat. Zu dieser Zeit fordern die Aufgaben im Colegio den ganzen Mann, ständig ist irgendwo etwas zu tun, aber ohne einen übers Alltägliche hinausgehenden Einsatz bestünde die Gefahr, daß die Dinge aus dem gewohnten Gleichmaß geraten, das wissen alle, und nichts genießt im Colegio einen höheren Stellenwert als ebenjenes Gleichmaß.
    Freistunden, zum Beispiel, die ohnehin schon als nur im äußersten Notfall hinzunehmendes Übel betrachtet werden, sind nun gänzlich auszuschließen. Ein Lehrer des Colegio fehlt nie, immer schon erzählte man sich von Kollegen, die krank oder noch gar nicht richtig auskuriert oder nur Stunden nach dem Verlust eines geliebten Angehörigen ihren Unterricht abhielten – bevor sie ihrer Unterrichtspflicht nicht nachgekommen wären, ließen sie lieber eine medizinische Untersuchung oder ein Begräbnis ausfallen. Manchmal jedoch – gewissermaßen um die Regel durch die Ausnahme als Regel zu bestätigen – passiert es trotz allem, daß ein Lehrer nicht kommen kann. Selbstverständlich hat er seine Abwesenheit rechtzeitig anzukündigen, und er wird dabei echte Zerknirschung empfinden, und doch kommt es so zu Unterbrechungen im sonst lückenlosen Stundenplan der Schüler. Für Freistunden gelten die gleichen Verhaltensregeln wie für eine siebte Schulstunde, auch wenn die Aufseher immer sagen, die siebte Stunde sei keine Freistunde. Der Vizerektor, der zur Zeit die Schulleitung ausübt, hat nun bezüglich derFreistunden eine Änderung erlassen (eine Änderung mit dem Ziel, die Normalität der Lehrtätigkeit aufrechtzuerhalten, es soll garantiert werden, daß diese Normalität nicht die geringste Beeinträchtigung erfährt): Sieht ein Lehrer sich tatsächlich außerstande, zum Unterricht zu erscheinen, hat er die Aufseher der betreffenden Klassen nicht nur über sein Fehlen in Kenntnis zu setzen – das gilt ja immer schon –, er muß ihnen auch eine pädagogische Aufgabe übermitteln, die die Schüler während der Stunden, die trotz allem weiterhin als Freistunden bezeichnet werden, zu erledigen haben. Diese Aufgabe an die Klasse weiterzuleiten, ihre Ausführung zu überwachen und das Ergebnis am Ende einzusammeln, um es anschließend dem Lehrer,

Weitere Kostenlose Bücher