Sittenlehre
Reporter spricht.
»Wer ist denn das?«
»Weiß ich nicht. Ein Sänger, glaube ich.«
Am unteren Bildrand erscheint ein Name: »Julio Villa.«
»Ach so, nein, ich dachte, das ist Gianfranco Pagliaro, aber das ist er nicht.«
Aus den nächsten Bildern ist zu ersehen, daß Julio Villa Fußballer ist. Man sieht ihn am Steuer eines Autos, und anschließend joggt er in einem hellblau-weiß gestreiften Trikot.
»Er ist in der Nationalmannschaft, oder?«
»Scheinbar.«
María Teresa nickt allmählich im Sessel ein. Derweil gehen die Nachrichten zu Ende, und es beginnt ein Spielfilm (argentinisches Kino der vierziger Jahre – die Mutter stellt auch jetzt den Ton nicht laut). María Teresa schläft tatsächlich ein – ohne es zu merken –, halb aus Müdigkeit,halb aus Langeweile. Die Mutter beschließt, sie nicht zu wecken, sie fürchtet, auf dem Weg zurück ins Bett könnte María Teresa wieder so wach werden, daß sie anschließend erneut nicht einschlafen kann. Statt dessen holt sie eine Decke und deckt sie zu, fast ohne sie zu berühren.
Noch vor Sonnenaufgang erwacht María Teresa mit stechenden Schmerzen an Hals und Rücken. Zum erstenmal würde sie lieber zu Hause bleiben und nicht ins Colegio gehen. Natürlich zieht sie diese Möglichkeit nicht ernsthaft in Betracht, sie wird ins Colegio gehen, das weiß sie, aber zum erstenmal hat sie das Gefühl, sie würde es lieber nicht tun, lieber würde sie ein wenig auf Abstand gehen zu dieser Welt, in der sie Listen durchgehen muß, die Aufstellung kontrollieren, das Aufgabenbuch der Lehrer führen, Disziplinverstöße bestrafen, immer wachsam sein, keine Schwäche zeigen, die Tafel wischen, für Kreidenachschub sorgen, die Schulleitung auf dem laufenden halten, sich um das nationale Erbe kümmern.
Schon bei der Ankunft im Colegio ist sie müde und sehnt das Ende des Schultages herbei, dabei hat er doch gerade erst angefangen. Der Schlafmangel fordert seinen Preis, die Augen brennen, die Knie sind schwach. Noch die flachste, gedämpfteste Stimme scheint ihr wie aus einer tiefen Höhle zu dringen, sie lauscht ihrem düsteren Echo nach, statt darauf zu achten, was die Stimme sagt. Als sie vor der zehnten Obertertia steht und die Anwesenheitsliste durchgeht, hat sie das Gefühl, die Namen, die sie aufsagt, zum erstenmal zu hören, und mehr als einmal glaubt sie statt »hier« »nicht da« verstanden zu haben. Zum Glück hat sie an diesem schlechten Tag keine zusätzlichen Schwierigkeiten zu bewältigen: Calcagno ist in Nylonstrümpfen erschienen, Valenzuelas Strümpfe sindblau, nicht grau, Baragli, Bosnic, Cascardo, Tapia und Zimenspitz haben sich die Haare schneiden lassen, Valenzuela auch, für alle Fälle, und Capelán scheint beim Abstandnehmen keinen Gedanken an Marré zu verschwenden. Alle Lehrer sind da: In den ersten beiden Stunden kommt Frau Pesotto und unterrichtet Physik, in der dritten und vierten Stunde ist Latein bei Herrn Schulz, in der fünften Spanisch bei Herrn Ilundain und in der sechsten Erdkunde bei Frau Carballo. Dank ihrer Müdigkeit gelingt es María Teresa, sich nicht weiter um Baragli zu kümmern, mögliche auffällige Verhaltensweisen seinerseits blendet sie aus, bis auf die Überprüfung, daß er sich tatsächlich die Haare hat schneiden lassen, übergeht sie ihn während des ganzen Nachmittags. Bei den Toiletten fällt ihr nichts Besonderes auf, sie erfüllt ihre Überwachungsmission diesmal allerdings auch nur lustlos und ohne große Erwartungen, sie tut nichts, was über den engeren Rahmen ihrer Dienstpflichten hinausginge. Herrn Biasutto sieht sie fast den ganzen Tag nicht, was auch nicht dazu beiträgt, ihre Stimmung zu heben. Der Chef der Aufseher ist ständig mit dem Studienleiter und dem Vizerektor zusammen, wahrscheinlich besprechen sie die letzten Einzelheiten bezüglich der Ausgestaltung der vaterländischen Feierstunde am 25. Mai, die immer näher kommt, man sieht ihn bestenfalls im Aufseherzimmer oder, während der Pausen, irgendwo auf dem Gang. Dabei tauschen sie nie mehr als einen kurzen, distanzierten Gruß aus, obwohl sie ihm doch so gerne etwas Neues berichten würde, aber da ist ja nichts.
Der Tag endet wie gewohnt mit dem Anstimmen des Liedes »Aurora«, begleitet vom Einholen der argentinischen Fahne im Mittelgang des Colegio. Die Schüler,die den Text der vaterländischen Lieder für gewöhnlich bloß leise vor sich hin murmeln, selbst im Fall der Nationalhymne, legen in diesen Tagen beim Singen eine größere
Weitere Kostenlose Bücher