Sittenlehre
bezeichnen ist. María Teresa hat bereits einen Fuß in die Knabentoilette gesetzt, sie streckt den Kopf vor – und damit ist es auch schon um sie geschehen. Als hätte sie mit einemmal – in manchen Filmen kommt so etwas vor – die Alltagswirklichkeit hinter sich gelassen und befände sich nun in einer Welt, in der andere Regeln gelten, in einer Welt ohne Schwerkraft oder ohne Kindheit zum Beispiel, oder in einer anderen Zeit, in der es immer noch die gleichen Dinge gibt, jedoch mit gänzlich neuer Bedeutung. Trotz dieser urplötzlich eingetretenen Verwandlung vergißt sie nicht, eine überaus vernünftige Vorsichtsmaßnahme zu ergreifen: Statt die Tür nach dem Durchschreiten einfach freizugeben und ausschwingen zu lassen – wie es eigentlich deren Art wäre –, hält sie sie mit der Hand, mit der sie sie zuvor aufgestoßen hat, an der Oberkante fest und bringt sie in die Ausgangsstellung zurück, auf genau gleiche Höhe mit dem zweiten Schwingflügel, so daß nichts nach draußen, auf den Gang hinausdringen und sich dort womöglich jemandes Blick darbieten kann.
Wie die Gänge ist auch die Toilette bis zu einer bestimmten Höhe mit Kacheln ausgekleidet, María TeresasEinschätzung nach sind es ungefähr zwei Meter, die Flächen darüber, bis zur unerreichbaren Decke, sind mit einem Anstrich versehen. Alles genau wie draußen, aber in helleren Farbtönen gehalten: Die Kacheln sind ockerfarben statt grün und die Wände zartgelb oder weiß. Oben an der hinteren Wand sind vier Fenster. Ziemlich weit oben, genau besehen, und geschlossen, wie alle Fenster im Colegio. Zum Öffnen der Fenster benötigt man eine dieser langen Eisenstangen mit einer besonderen Vorrichtung an der Spitze; man bekommt sie nur über die Schulverwaltung (und nur mit schriftlicher Genehmigung des Studienleiters). María Teresa sagt sich, daß der beim heimlichen Rauchen der Schüler sich in den Toiletten entwickelnde Rauch in diesen Fenstern kein Schlupfloch fände, um sich hinauszustehlen, wie auch eine wohlmeinende Erneuerung der Luft durch das ungehinderte Eindringen einer frischen Brise von draußen ausgeschlossen ist. In dieser Hinsicht ist also jedes Ablenkungsmanöver unmöglich. Andererseits sagt sie sich jedoch angesichts der schieren Größe des Raumes, des beträchtlichen Abstandes zwischen den Wänden, der weit entfernten Decke, daß der Zigarettenrauch, so es ihn denn gibt, sich schwerlich nicht zum allergrößten Teil auflösen beziehungsweise hinreichend verteilen dürfte, was wiederum die Aussichten, ihn nachweisen zu können, begrenzt erscheinen läßt. Welcher dieser beiden – an und für sich widersprüchlichen – Faktoren letztlich den Ausschlag gibt, weiß sie nicht zu sagen. In diesem Moment jedenfalls, in dem sie nicht mehr von außen ins Innere der Toilette hineinspäht, sondern dieses entschlossen betreten hat, kann sie nicht mit völliger Gewißheit angeben, welcher Geruch vorherrscht. Bestimmt kein Zigarettengeruch,nicht einmal untergründig. Um die Eindeutigkeit der übrigen Gerüche – der üblichen Toilettengerüche – ist es jedoch kaum besser bestellt, weder was die der menschlichen Ausscheidungen noch was – am Ende des Tages – die des chlorgesättigten Putzmittels angeht.
Der Tür gegenüber befinden sich fünf durch dünne Wände voneinander abgetrennte Kabinen, jede mit ebenfalls grüner Türe. Die Ausmaße dieser Kabinen sind im Vergleich zu der sie umgebenden Örtlichkeit deutlich kleiner: Ihre Türen reichen nicht bis zum Boden, ihre Wände nicht bis zur Decke. Es sind relativ abgeschlossene Räume, die für eine bestimmte intime Verrichtung einen weitreichenden Schutz bieten – ganz und gar verschlossen sind sie nicht. In jeder dieser Abteilungen findet sich am Boden ein weißes Keramikelement. In dessen Mitte wiederum ist ein Loch, das um so dunkler wirkt, als es von Weiß umgeben ist; im vorderen Teil wiederum sind die Umrisse zweier Füße zu sehen, hervorgehoben durch schmale Stege, die ein Ausrutschen verhindern sollen. María Teresa steckt den Kopf in eine der Kabinen und erblickt die entsprechende Vorrichtung zum erstenmal. Sie versucht sich vorzustellen, wie man diese sanitäre Einrichtung zu benutzen hat: Dabei das Gleichgewicht zu halten, sich also nicht zu weit zurückzulehnen und zugleich tief genug in die Hocke zu gehen, um von sich zu geben, was man von sich zu geben hat, ohne die eigenen, bis zu den Füßen hinuntergezogenen Kleider zu beschmutzen, scheint ihr nicht einfach zu
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