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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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Beteiligung und eine deutlichere Aussprache an den Tag. Man versteht auf einmal, was sie singen, statt daß dies wie sonst der Sopranstimme von der Aufnahme überlassen bliebe, die aus den Lautsprechern im Gang ertönt. Laut und deutlich singen die Schüler: »Hoch am Himmel / zum Kampf entschlossen / erhebt sich ein Adler / in kühnem Flug.«
    María Teresa versteht es selbst nicht, aber nachdem sie ihre Pflicht für diesen Tag erfüllt hat, zieht sie ihre Anwesenheit im Colegio mit allen möglichen Ausreden in die Länge, statt sich umgehend auf den Heimweg zu machen, eine ungewöhnliche Reaktion. Seltsam, nicht zu begreifen, denn noch nie hatte sie so wenig Lust, zur Arbeit zu gehen, wie heute, am liebsten wäre sie einfach im Bett geblieben; aus reinem Pflichtgefühl, und weil es nun einmal sein muß, ist sie heute dennoch gekommen. Sie hat ihre Arbeit korrekt erledigt, etwas anderes gibt es für sie auch gar nicht, so ist sie erzogen worden, so sieht es das Wertgefüge vor, für das sie einsteht. Inzwischen ist es fast halb sieben, die Schüler der zehnten Obertertia sind längst fortgegangen, die anderen Aufseher auch, sie ist mit allem fertig, was sie zu tun hatte, sie hat die Anwesenheitsliste am vorgesehenen Ort abgelegt, sie hat die Unterschriften der Lehrer durchgesehen, sie hat im Klassenzimmer der zehnten Obertertia, in dem morgen vormittag die fünfte Obertertia Unterricht haben wird, Kreide bereitgelegt, sie könnte also jederzeit nach Hause gehen, sie könnte bereits draußen auf der Straße sein, sie könnte bereits kurz vor dem U-Bahneingang sein. Aber sie bleibt noch da.So wie sie heute morgen nicht in die Schule gehen wollte, will sie jetzt nicht nach Hause, und deshalb bleibt sie noch da. Auf die Idee, irgendwoanders hinzugehen – irgendwoanders hin als nach Hause –, kommt sie nicht. Undenkbar. Ihre Auswahlmöglichkeiten sind wesentlich beschränkter: Nach Hause möchte sie nicht, also bleibt sie im Colegio. Genau besehen gibt es nichts, was sie noch dort hielte, die Gründe, die sie vor sich selbst anführt, um ihr Fortgehen hinauszuschieben, sind bloß vorgeschoben. Sie sieht Stundenpläne durch, die sie längst durchgesehen hat, den Themenkatalog der Lehrer hat sie bereits zur Kenntnis genommen, die Strafen, die sie ins Verzeichnis eintragen will, sind längst verbüßt, die Kreiden, die sie ordnet, lagen schon zuvor ordentlich in ihren Pappschachteln, die Landkarten von Asien und Afrika, die sie ausrollt, muß sie danach nur wieder zusammenrollen.
    Um zehn vor sieben geht sie aus dem Aufseherzimmer. Das Colegio liegt verlassen da. Keine Obertertia hat heute eine siebte Stunde zu absolvieren, folglich ist auch keine Menschenseele auf dem Gang zu sehen. María Teresa geht nach Hause, sie hat sich gewissermaßen damit abgefunden, daß sie gehen muß. Das tut sie jetzt auch – sie macht aber einen kleinen Umweg. Der kürzeste Weg nach draußen führte über die Treppe am Ende des Gangs, neben dem Rektorat. Sie beschließt jedoch, warum, weiß sie selbst nicht, heute die andere Treppe zu nehmen, die viel weiter entfernt ist, die neben der Bibliothek. Dafür muß sie, das ist ihr klar, einmal die komplette Runde machen, den vor ihr liegenden Gang entlang, am Kiosk vorbei, an den Toiletten vorbei, dann durch den nächsten Gang, von einem Ende zum anderen, und dann erst kommt sie zu der Treppe, die sie heute nehmen will.
    Der Kiosk ist geschlossen, und so sieht man erst, was er eigentlich ist: nichts anderes als ein Blechwürfel. María bleibt davor stehen, als wollte sie ihn genauer in Augenschein nehmen. Aber sich selbst macht sie nicht lange etwas vor, sie dreht sich vielmehr um – und es ist niemand zu sehen; sie sieht in die andere Richtung, auch da ist niemand. Im Colegio herrscht völlige Stille, nicht das leiseste Murmeln aus der Ferne ist zu hören. María Teresa legt eine Hand sachte an das Holz einer der grünen Türen. Ein sanfter Druck genügt, und sie geht auf. Eine seltsame Ruhe erfüllt sie, fast fühlt sie sich glücklich. Sie sieht ihre Hand an, die an der Tür der Knabentoilette liegt, die Hand vermittelt ihr eine Gewißheit, einen Entschluß: Sie wird diese Tür öffnen und hineingehen.

Siebte Stunde
    Beim Öffnen quietscht die Tür. Tagsüber ist das nicht zu hören, dann herrscht auf dem Gang ein ständiges Kommen und Gehen, begleitet von lebhaften Unterhaltungen. Jetzt aber, in der abendlichen Stille, gibt die Tür einen Ton von sich, der fast schon als verräterisch zu

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