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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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unterwegs nach Villa Giardino, um sechs Tage im dortigen Gewerkschaftshotel Urlaub zu machen. Der Bus hielt vierzig Minuten in Río Cuarto, damit die Reisenden zu Abend essen konnten. María Teresa fragte, ob sie auf die Toilette gehen dürfe, worauf die Mutter sie allein losschickte. Sie begnügte sich damit, auf eine wenig ansehnliche Tür zu deuten und ihr eine Rolle feuchtes Toilettenpapier zuzustecken. María Teresa betrat die Toilette, ließ sich auf dem Sitz nieder, und während sie sich geräuschlos erleichterte, machte sie Gebrauch von ihrer frisch erworbenen Fähigkeit, flüssig zu lesen. Die meisten Inschriften an den Wänden beschimpften Onganía oder ließen Boca Juniors hochleben. Es war das Jahr ’69: Im Mai hatte es in Cordoba zahlreiche Demonstrationen gegeben, und im Dezember war Boca Juniors Landesmeister geworden. Doch María Teresa stieß auch auf eine andere Textzeile, die kleiner und in einfachem Schwarz geschrieben, aber immer noch auffällig genug war, um demjenigen ins Auge zu fallen, der nach derlei suchte.Die Inschrift besagte kurz und knapp: »Lecke Mösen.« Darunter stand eine Telefonnummer. María Teresa wußte damals schon, daß es dieses Wort gibt, das ihre Mutter niemals gebrauchte, wie auch sie es niemals gebrauchen durfte. Es war ein Wort für Männer. Falls nötig, mußten Frauen Vagina sagen, besser war es aber, das Thema gar nicht erst anzusprechen. Diesem Männerwort auf der Frauentoilette zu begegnen verunsicherte María Teresa, auf einmal mußte sie daran denken, daß es durchaus sein konnte, daß ein Mann diese Toilette betrat und bis dorthin vordrang, wo sie in diesem Moment saß, den Schlüpfer bis auf die Knie hinuntergezogen und weit weg von ihrer Mama. Sie machte sich nur oberflächlich sauber, verließ hastig die Toilette, wurde jedoch bei jedem Schritt durch unerwartete Widerstände aufgehalten, so wie wenn man schlecht träumt: Die Türe ging nicht auf, sie rutschte aus und wäre fast hingefallen, zwei dicke Frauen versperrten den Durchgang, sie konnte ihre Mutter und ihren Bruder zunächst nirgendwo entdecken.
    Jahre danach erinnert sich María Teresa an dieses Erlebnis, vielleicht, weil sie inzwischen eine erwachsene Frau ist, die eine Männertoilette betreten hat. Das macht sie natürlich, weil sie Aufseherin ist, die Aufseherin der dritten Obertertia, und weil ein Schüler aus dieser Klasse, mindestens einer, er heißt Baragli, im Colegio raucht – vielleicht tun es ihm auch einige Mitschüler nach, jedenfalls geht das nur in den Toiletten. Wenn man nicht gerade hieran denkt, sieht man allerdings makellos reine Toilettenwände vor sich, ohne irgendwelche Inschriften, nirgendwo ein Satz oder eine Zeichnung, an denen man sich stören könnte.
    An der Kabinentür – aus Holz – stößt María Teresa jedochauf Kratzer. Kratzer, die auf den ersten Blick zufällig wirken könnten, Risse, hervorgerufen durch das schiere Verstreichen der Zeit. Einem aufmerksameren Betrachter enthüllt sich freilich der keineswegs willkürliche Charakter dieser Formen, sie stammen vielmehr von Menschenhand, die Striche und Kurven bildeten einst Buchstaben – oder so war es wenigstens beabsichtigt – und die Buchstaben Wörter. Bei genauerem Hinsehen merkt man, daß diese Einkerbungen dem Holz gewaltsam beigebracht wurden, möglicherweise mit Hilfe eines spitzen Gegenstandes, eines Taschenmessers vielleicht oder, bedenkt man, welche Gegenstände den Schülern für gewöhnlich zur Verfügung stehen, einer Zirkelspitze. Jemand hat einmal etwas an diese Tür geschrieben, aber weder mit Tinte noch mit Graphit – beides Substanzen, die sich auch wieder entfernen lassen; in der Absicht, etwas Unauslöschliches zu hinterlassen, etwas, was eher einem Stich oder einer Schnitzarbeit zu vergleichen ist, hat er sich vielmehr einer drastischeren Methode bedient: ganze Späne aus dem Türholz schneiden, ausreißen, entfernen, um auf diesem Wege Wörter zu bilden, eine Schrift. Aber vergebens: Das Gegenmittel der Schulverwaltung bestand darin, die Tür neu streichen zu lassen, wodurch die verletzte Holzoberfläche wieder einheitlich glatt gemacht wurde und damit die Inschrift, die jemand einst dort hinterlassen hatte, ausgelöscht. Eine schnelle Lösung, wie man so sagt: ein- oder zweimal überstrichen mit der bekannten grünen Farbe, und schon ist, was dort geschrieben stand, für immer verschwunden.
    Und doch scheint im Lauf der Jahre ein gewisser Klärungseffekt eingetreten: Das Holz hat die

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