Sittenlehre
sein. Darüber hinaus macht die Örtlichkeit einen unbequemen Eindruck, wie sie gleichzeitig höchste Anforderungen an die Treffsicherheit dessen, der sie aufsucht, zu stellen scheint. In einem Punkt gleichen sich Herren- und Damentoilette:In ihrer wenn auch bescheidenen, durch Abtrennungen hergestellten Privatheit, die den Beweis dafür liefert, daß der Mensch bestimmte Dinge vorzugsweise in völliger Abgeschiedenheit erledigt. In einem anderen Punkt besteht jedoch ein Unterschied: Den Frauen stehen nämlich zur Erledigung ihrer Bedürfnisse Sitze zur Verfügung. Diese Sitzmöglichkeiten sind womöglich etwas rudimentär, bei manchen fehlen der Deckel wie auch der eigentliche Toilettensitz; dennoch handelt es sich dabei unbestreitbar um eine modernere und zufriedenstellendere Variante als diejenige, die sie nun kennenlernt – zweifellos kommen die Vertreter des männlichen Geschlechts hier immer wieder einmal aus dem Gleichgewicht, ein Vergnügen ist das sicherlich nicht, und oft genug dürften ihre Ausscheidungen auch das dafür vorgesehene Ziel verfehlen.
Dies alles stellt sie sich zunächst nur abstrakt vor, ohne jede eigene Erfahrung, und doch hat sie in jederlei Hinsicht recht. Wie sich bestätigt, als sie einen genaueren Blick in die Kabine wirft, wo sich ihr ein Bild bietet, das mit der Vorstellung von makelloser Hygiene wenig zu tun hat. Doch darum geht es ihr nicht, darauf hat sie es nicht abgesehen. Wie sie andererseits von ihrem Ekel absieht, um zu finden, wonach sie auf der Suche ist: Spuren einer am Boden ausgedrückten Zigarette, liegengebliebene Aschereste. Bei ihrer Erkundung geht sie mit großer Sorgfalt vor, entdeckt aber nichts, auf Anhaltspunkte stößt sie nirgends. Nur zwei Kabinen sind verschmutzt, die anderen drei sind in gutem Zustand, entweder unbenutzt oder ohne Spuren ihrer Benutzung. In eine davon begibt sie sich nun, seltsam entschlossen und unentschlossen zugleich, wie schon beim Betreten der Toilette.Sie geht hinein und macht die Tür zu. Sie legt den Riegel vor: Jetzt ist die Tür wirklich verschlossen. Umgehend stellt sie fest, daß das mit der Abgeschiedenheit nur teilweise zutrifft: Einerseits ist sie hinter dieser Tür in Sicherheit – sie ist allein, niemand sieht sie. Andererseits endet die Tür auf der Höhe ihrer Knie.
María Teresa versucht zu tun, was die Vertreter des männlichen Geschlechts hier zu tun haben: Sie stellt die Füße auf die Fußumrisse des Keramikelements und geht in die Knie, als wollte sie sich hinsetzen; da allerdings gar nichts zum Sitzen da ist, kann sie die Bewegung nicht richtig zu Ende führen. Eine Möglichkeit, in dieser Stellung das Gleichgewicht zu halten, besteht darin, sich mit den Händen seitlich an den Wänden abzustützen, wie sie nun feststellt. Doch sie fühlt sich dadurch rasch erschöpft, ihre Beine fangen an zu zittern – vielleicht liegt das aber auch daran, daß sie in der Nacht so schlecht geschlafen hat. Das Loch dort unten stößt sie ab und zieht sie an. Es ist der Ort, in dem die Exkremente verschwinden, stimmt schon, ebenso wahr ist jedoch, daß diese Löcher, wenn man nur die Form betrachtet, nichts als die Form, dem Mysterium gleichen: Sie haben die Form der Mysterien. María Teresa muß plötzlich daran denken, daß Männer und Frauen nicht gleich sind, daß es da einen Unterschied gibt; das ist ja offensichtlich, sie hatte nur bis jetzt noch nie darüber nachgedacht. Eine Frau, sie zum Beispiel, könnte hier diese schwierige, halb hockende Stellung einnehmen und den beiden dringenden Bedürfnissen des menschlichen Körpers gleichzeitig nachgeben. Beim Mann dagegen, da weiß sie Bescheid, wird etwas in hohem Bogen vorne hinausbefördert, genauer gesehen hat sie es nie, aber sie weiß trotzdem Bescheid,das weiß schließlich jeder; was sie sich nicht vorstellen kann, ist dagegen, wie ein Mann den zwei Bedürfnissen seines Körpers gleichzeitig nachkommen und dabei beiderlei Ausscheidungen dem mysteriösen Loch, das alles in sich aufnimmt, zuführen soll.
Im Colegio Nacional de Buenos Aires ist es streng verboten, etwas an die Toilettenwände zu schreiben. Die Wände dort sind sauber. In anderen öffentlichen Toiletten, in Bars oder auf Busbahnhöfen, sieht man dagegen häufig Inschriften verschiedenster Art und zumeist recht drastischen Inhalts. María Teresa fällt etwas ein, was ihr einmal als Kind passiert ist, auf der Toilette des Busbahnhofs von Río Cuarto; sie war damals mit ihrer Mutter und ihrem Bruder
Weitere Kostenlose Bücher