Sittenlehre
Farbe immer mehr aufgenommen. Ein Vorgang, der sich in winzig kleinenund unendlich langsamen Schritten vollzieht, wie es nicht anders sein kann, wenn eine Materie sich vermittels ihrer Poren eine andere einverleibt, wenn nach der Gerinnung Tropfen für Tropfen von unsichtbaren Hohlräumen aufgesaugt wird, die selbst nichts von ihrem Tun wissen. Auf diesem Wege hat die Toilettentür das, was vor einiger Zeit darauf geschrieben wurde, in Teilen zurückgewonnen. Es erscheint nicht mehr gestochen scharf, völlig verschwunden ist es jedoch auch nicht. An seiner Stelle zeigt sich nun, wenn man genauer hinsieht, eine leichte Vertiefung, ein – wenn auch nur angedeuteter – Höhenunterschied, der sich besser mit den Fingern als mit den Augen wahrnehmen läßt. Deshalb berührt María Teresa die Tür von der Innenseite aus mit den Fingerspitzen. Und entdeckt dabei Formen, wie ein Blinder, der einen in Brailleschrift verfaßten Text liest. Formen: ein Kreis, eine Linie, die ansteigt, absteigt, ansteigt, absteigt, eine steile, am oberen Ende ins Nichts auslaufende Kurve – Formen, die Buchstaben ergeben. María Teresa versucht – wie ein zweiter Braille –, die geheime Inschrift auf der Toilettentür zu entziffern. Das erste Wort errät sie nicht. Den einen oder anderen Buchstaben, ein r, vielleicht ein p, aber nicht das ganze Wort. Dann kommt ein o: rund, in Druckschrift, ein o. Und danach, das heißt darunter, sechs Buchstaben, die María Teresa einen nach dem anderen nachfährt, bis sie zu dem Ergebnis kommt, daß sie, zusammen gelesen, das Wort »muerte« ergeben. Das bringt sie dazu, es erneut mit dem ersten Wort zu versuchen. Begreift und versteht doch, möchte sie ihren müden Fingern dabei zurufen, doch es ist zwecklos, auf diesem Abschnitt behält die Farbe einstweilen die Oberhand, hier hat sie das Holz dermaßen zugedeckt und eingeebnet, daß diesesihre Arbeit bislang nicht hat rückgängig machen können, nicht einmal ansatzweise. Das erste Wort bleibt unverständlich, verloren. Lesen läßt sich lediglich »o« – also »oder« – und »muerte« – also »Tod«.
María Teresa läßt die Tür erst einmal Tür sein und wendet sich wieder dem schwarzen Loch der sanitären Einrichtung zu. Sie möchte herausfinden, ob man, was auch immer dort hineingefallen ist, sehen kann: abgebrannte Streichhölzer oder halb gerauchte Zigaretten. Wie zuvor stützt sie sich seitlich an den Wänden ab, diesmal jedoch ohne in die Knie zu gehen oder die Türe anzusehen. Vorsichtig beugt sie sich vor, sehr vorsichtig, nicht daß sie ausrutscht. Sie blickt in die Tiefe – und sieht nichts. Nicht das geringste. Das Loch verliert sich in absoluter Schwärze, als wollte es auf den ländlichen Ursprung dieser Art sanitärer Einrichtung verweisen. Die bestand nicht aus einem Keramikelement, war nicht an ein Abflußrohr angeschlossen, das seinerseits über die Kanalisation mit der Stadt verbunden war, sondern war nichts als ein Schacht, ein bodenloser Schacht, ein blinder Schacht, ein Schacht, der in die Dunkelheit führt und sich zuletzt in der alles auslöschenden Tiefe der Erde verliert. Sollten die Schüler des Colegio – was gut möglich ist –, wenn sie dort rauchen, die Streichhölzer, Asche und den Rest der Zigarette in dieses Loch werfen, ist es ausgeschlossen, ihnen auf die Spur zu kommen, es sei denn, sie sind dabei irgendwann einmal nicht achtsam genug. Grund genug jedenfalls für María Teresa, sich vorzunehmen, was sie sich bereits vorgenommen hat: sie auf frischer Tat zu ertappen.
Sie legt den Riegel zurück, öffnet die Tür und geht aus der Kabine. Sie steht wieder in dem allgemein zugänglichenBereich der Knabentoilette. Ihr gegenüber befinden sich vier eher kleine Handwaschbecken, deren geringer Modernitätsgrad sich daran ablesen läßt, daß an jedem zwei verschiedene Wasserhähne angebracht sind, einer für kaltes und einer für warmes Wasser. Um so neuzeitlicher dafür: bunte, eiförmige Seifen, die sich den Händen an in die Wand eingelassenen Metallhaken darbieten. Diese Seifen werden durch Abrieb und Feuchtigkeit immer kleiner, um sich zuletzt ganz aufzulösen und das Geheimnis ihres eisernen Skeletts zu offenbaren. Bis es soweit ist, hinterlassen die Finger Spuren auf ihrer Rundung, die schmutzigen Finger der Schüler beim Toilettengang, wodurch sie, so ist es, ihren Umfang, nie jedoch ihre Form oder Farbe verlieren.
Auch hierin gleichen sich die Toiletten beider Geschlechter. Was ebenso für die zwei
Weitere Kostenlose Bücher