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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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Spiegel gilt, die über den Waschbecken angebracht sind. María Teresa, die nicht besonders groß ist, muß sich auf die Zehenspitzen stellen, wenn sie sich darin betrachten will. Das tut sie jetzt und sieht sich an. Komisch, schon seit Tagen, wenn nicht Wochen, hat sie sich nicht mehr in einem Spiegel betrachtet, und jetzt auf einmal macht sie das, an ihrem Arbeitsplatz, in der Schule, in der Knabentoilette der Schule, in der sie arbeitet. Sie sieht sich, so wie sie ist: der gerade geschnittene Pony, die immer gleiche Brille, das runde Gesicht, der nicht existierende Mund, die bleiche Haut. Sie findet sich so wie immer: ein bißchen langweilig. Daß sie nicht besonders attraktiv ist, weiß sie, seit sie klein war. Trotzdem hat sie sich nie einreden können, sie sei häßlich. Häßliche Frauen wirken oft attraktiv, das weiß sie durch diese Sängerin, Barbra Streisand, die ihr Bruder gar nicht übel findet. Da sie nicht hübsch ist, könnte siedurchaus häßlich sein, das ist sie aber nicht. Und jetzt? Sie sieht müde aus. Sie ist bleicher als sonst, hat fast schon violette Augenringe, und zu beiden Seiten des Mundes zeichnen sich zwei abstoßende Falten ab. Sie versucht zu lächeln. Sie möchte wissen, was ihr besser steht, ein ernstes oder ein lächelndes Gesicht. Sie kann sich nicht entscheiden. Mit ernstem Gesicht wirkt sie ältlich – nicht alt, sondern ältlich, eine Frau aus einer anderen Zeit, wie von einem Bild aus dem Mittelalter. Beim Lächeln dagegen sind ihre Zähne zu sehen, und die sind zu groß und zu breit, dadurch wirkt sie dümmlich, findet sie. Die Zwischenlösung, ein Gesicht, das weder ernst noch freundlich blickt, ist dann dieses langweilige Gesicht, das sie meistens zur Schau stellt.
    Vom langen Auf-den-Zehenspitzen-Stehen ermüden ihre Füße, die Zehen tun weh wie auch der Spann, die Teile, die besonders beansprucht werden. María Teresa überlegt, ob sie sich nicht die Hände waschen sollte, bevor sie geht, schließlich hat sie den entscheidenden Teil der Toilette betreten, hat dort herumgeschnüffelt und Wände und Türen berührt. Sie sagt sich, ja, und will schon damit anfangen – da ziehen die beiden äußersten Enden der Toilette ihre Aufmerksamkeit auf sich. Obwohl sie doch am meisten ins Auge fallen – und sich auch vom Gang aus am ehesten einsehen lassen –, hat sie sich bis jetzt nicht damit beschäftigt. Was die eigentliche Besonderheit einer Männertoilette ausmacht, was diese tatsächlich von einer Frauentoilette unterscheidet, ist ja gerade das, was dort drüben zu sehen ist: die Reihe der Pissoirs. Auf jeder Seite sind es fünf, macht zusammen zehn, wobei sich die fünf an den beiden Ende des Raums so ähnlich sind, einander in so vollkommener Symmetrie gegenüberstehen, daß esin Wirklichkeit auch bloß fünf sein könnten, die von einem großen Spiegel auf der einen Seite einfach verdoppelt werden. Männer setzen sich beim Pinkeln nicht hin, das weiß María Teresa. Das weiß sie, weil das jeder weiß, sie weiß es aber auch, weil ihre Mutter immer ihren Bruder ausschimpfte, wenn zu Hause der Toilettensitz wieder einmal naß war, weil er zu faul gewesen war, ihn hochzuheben. Hier also halten es die Männer anders als die Frauen, hier holen sie heraus, was vorne an ihnen dranhängt, und machen im Stehen, was die Frauen immer schön im Sitzen machen und ohne sich dabei fremden Blicken auszusetzen. Hier verzichten die Männer rückhaltlos auf jeden Rest von Privatsphäre, hier stellen sie sich nebeneinander in einer Reihe auf – wie Passanten, die stehenbleiben, um eine Schaufensterauslage in Augenschein zu nehmen, wie Leute, die am Bahnsteigrand die Einfahrt der U-Bahn erwarten; vor ihnen befindet sich jedoch keine Auslage und ebensowenig das noch leere Gleisbett der U-Bahn, die gleich einfahren wird, sondern die nebeneinander aufgereihten Pissoirs, und sie haben ihre Dinger da vorn rausgeholt und halten sie in der Hand, und jetzt tritt María Teresa näher und sieht sich die fünf stillen Pissoirs an, wo sich all dies ereignet, als beherbergte dieser Ort das Geheimnis der Dinge, die sich hier abspielen, oder als enthielten diese Dinge ein Geheimnis, das der Ort, wo sie sich ereignen, seinem Betrachter enthüllen könnte.
    Die Pissoirs sind groß, aufrecht wie Grabstelen und wie diese aus Marmor. Sie reichen vom Boden bis ungefähr auf Brusthöhe. In regelmäßigen Abständen ergießt sich, durch einen Mechanismus ausgelöst, ein Schwall Wasser über ihre Vorderseite und

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