Sittenlehre
säubert diese. Der Abfluß erfolgtmittels einer Handvoll Öffnungen, die am Fuß der Stelen zu erkennen sind. Vornübergebeugt, um besser sehen zu können, nimmt María Teresa diesen Bereich genauer in Augenschein. Offenkundig sind die Löcher zu klein und neigen dazu, zu verstopfen, weshalb dieser Bereich keinen durchlässigen und sauberen Anblick bietet, im Gegenteil, er hat etwas von einem Miniatursumpf. Hier sammelt sich Urin an, Urinreste, die stundenlang zurückgehalten werden, eine dickflüssige Stauung, die sich kaum je aufzulösen scheint. Ihre Farbe hat einen entsprechend satten Ton, dick und lehmig, ohne die Zeit und den Stillstand gäbe es eine solche Farbe nicht. In diesen mikroskopisch kleinen Seen treiben alle möglichen Dinge, sofern sie nicht darin versinken: Papierchen, kurze Haare, Limonadedeckel, Holzspiralen von einem Bleistift, den jemand angespitzt hat. Jedoch keine Zigarettenstummel. Und ebensowenig einer von diesen dünnen goldenen Zellophanstreifen, die sich von einer Zigarettenschachtel lösen, sobald man sie geöffnet hat. María Teresa sieht ganz genau hin, ohne es zu merken, ist sie in die Hocke gegangen. Und in diesem Moment setzt sich die Pissoirspülung in Gang. Weiße Wasserfäden stürzen aus der Höhe über die aufrecht stehende Steinplatte, María Teresa betrachtet das dünne Rinnsal, mühsam hervorgebracht von einem Bach, der schon lange keinen Regen mehr zu trinken bekommen hat. Dort, wo die Wasserfäden auf dem Boden auftreffen, rufen sie ein murmelndes Geräusch hervor, zu einem regelrechten Sprudeln reicht es nicht; außerdem bringen sie den angestauten Urin und was sich sonst noch so dort angesammelt hat, zum Erzittern. Die Farbe der Pfütze hellt sich um einige Grade auf. Das Flüssigkeitsvolumen nimmt zu, Überschwemmungsgefahrbesteht jedoch nicht, im Gegenteil, schon bald nimmt es langsam, aber stetig wieder ab, was beweist, daß ein Teil dessen, was sich da ergossen hat, sehr wohl abfließt, daß nicht alles, was sich ergießt, dort stehenbleibt.
In der Stellung, die María Teresa eingenommen hat, befindet sie sich auf idealer Höhe, um sich davon zu überzeugen, daß der weiße Grundton der Pissoirs im mittleren Bereich unzweifelhaft eine andere Färbung aufweist. Dort ist er ockerfarben, teilweise sogar bräunlich, und der Grund hierfür liegt auf der Hand: Genau in diesem Gebiet treffen die Urinstrahlen der Schüler auf. Diesbezüglich liegen die Dinge einfach anders, Teresa weiß Bescheid, als bei den Frauen: Hier trifft der Urin nicht senkrecht auf die Wasseroberfläche auf, im Gegenteil, er wird zunächst herausgeschleudert, nach vorne, daran gibt es ebensowenig zu deuteln wie an den Dingern, mit deren Hilfe die Männer ihren Strahl von sich geben. Der schimmernde Bogen tritt kraftvoll hervor und schlägt mit Wucht auf die weiße Oberfläche des Pissoirs auf, das ist mehr als ein bloßes Streicheln. Dort, wo er auftrifft, dort wo er nicht nachläßt, geht die weiße Tönung mit der Zeit verloren, und an ihre Stelle tritt ein Strahlungszentrum, um das herum sich mehrere Streifen ausbreiten, in einer Farbe, die zwar nicht die des Urins ist, aber doch die Erinnerung daran wachruft. Ohne besonderen Vorsatz noch Widerwillen nähert María Teresa einen Finger, den Zeigefinger ihrer rechten Hand, diesem Bereich, setzt seine Spitze schließlich darauf ab. Setzt sie darauf ab und beginnt dann, an der Stelle zu reiben. Vielleicht möchte sie ausprobieren, ob die Färbung dem Reiben widersteht; sie möchte überprüfen, ob sie durch energisches Reibenzum Verschwinden gebracht werden kann, ob die Stelle gereinigt werden kann. Oder aber es ist genau umgekehrt, und sie möchte ausprobieren, ob die Färbung so stark ist, daß die Farbe sich schon durch kurzes Reiben auf die Fingerspitze überträgt.
María Teresa nimmt den Finger von der Stelle, sieht ihn an, riecht daran: Er ist unversehrt. Trotzdem dreht sie einen der Hähne des ihr am nächsten befindlichen Waschbeckens auf und wäscht sich die Hände. Sie reibt kreisförmig über die glatte Seife, über die sonst die Schüler die Hände kreisen lassen. Dann feuchtet sie sie an, kaltes Wasser ist ihr lieber. Es gibt nichts zum Abtrocknen. Also behilft sie sich mit dem kleinen Taschentuch, das seit dem Beginn ihrer Erkältung in ihrem Ärmel steckt, damit bekommt sie die Hände weitgehend trocken, nicht ganz, das ist ihr klar.
Erst jetzt, wo sie kurz davor steht, hinauszugehen, kommt sie auf den Gedanken, daß ja schon im
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