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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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nächsten Augenblick jemand von den Reinigungskräften die Knabentoilette betreten könnte, um seine Arbeit zu erledigen. Diese Leute sind für gewöhnlich sehr schweigsam, sie tragen blaue Kittel, kaum jemand weiß, wie sie heißen, und während der Unterrichtszeit sind sie so gut wie nie zu sehen. Eben um diese Uhrzeit, nach Unterrichtsschluß, verteilen sie sich über das Colegio, um mit großen Besen, deren Borsten wie lange Bartstoppeln aussehen, die Fußböden zu säubern, die ersten Ansätze von Spinnweben von den Decken zu entfernen oder in den Toiletten Eimer voll Wasser auszukippen und so den Dreck wegzuschwemmen.
    María Teresa steckt den Kopf zwischen den Schwingtüren hervor: Niemand zu sehen. Unverzüglich verläßtsie die Toilette. Schon steht sie im Gang – ein Ort, zu dem jedermann Zutritt hat. Um kurz nach halb acht tritt sie auf die Straße hinaus. Ihr kommt es so vor, als wäre es wärmer als am Mittag; vielleicht hat sie aber auch nur diesen Eindruck. Daß die Temperatur bei Einbruch der Nacht nicht abgenommen haben soll, könnte sie nicht beschwören.

Sittenlehre
    Die Beete an der Plaza de Mayo sind üppiger bepflanzt denn je und tragen dazu bei, den Gesamteindruck des Platzes zu heben. Eigentlich ist dies nicht die Zeit, zu der die Blumen am prächtigsten gedeihen, der Mai geht seinem Ende entgegen, drückend liegt die Herbstluft über der Stadt, nicht nur aufgrund ihres Gewichts, auch daß sie so undurchdringlich scheint, wirkt belastend. Dennoch stehen die Blumen gerade aufgerichtet in den Kästen, ordentlich in Reih und Glied, und machen einen frischen, gepflegten Eindruck, der zu den munter vor sich hin plätschernden Springbrunnen paßt, die ausnahmsweise einmal keinerlei Fußspuren aufweisen, wie der manchmal so staubig und verlassen, manchmal aber auch so chaotisch wirkende Hauptplatz von Buenos Aires überhaupt an diesen Tagen etwas Ausgeglichenes hat, ja den Anschein einer anmutig-harmonischen Landschaft erweckt. Was letztlich aber auch unerläßliche Voraussetzung dafür ist, daß die Bürgerschaft in angemessener Weise eines großen vaterländischen Ereignisses gedenken kann: In wenigen Tagen jährt sich erneut der Tag der Mairevolution. Vor dem Stadthaus, wo sich die historischen Ereignisse einst abspielten, versammeln sich in diesem Moment – in großer Zahl und vollkommener Ordnung – dickleibige kirchliche Würdenträger, streng dreinblickende Mitglieder der Streitkräfte, Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Organisationen (vaterländischeVereinigungen, Geheimclubs, Wohlfahrtsverbände, philanthropische Zentren), hier und da Gruppen von nicht weiter definierten Mitgliedern der sogenannten Öffentlichkeit, vor allem aber die perfekt aufgereihten Schüler des Colegio.
    Dies ist tatsächlich etwas Außergewöhnliches, findet die Parade der Schüler durch die Straßen von Buenos Aires doch traditionell am 20. Juni statt, also am Tag, an dem des Todes von Manuel Belgrano gedacht wird. (Er war Schüler des Colegio, ein Held der Nation und starb einsam und verarmt.) Normalerweise gehen die Schüler an diesem Tag – also am letzten Tag vor dem Winteranfang – auf die Straße hinaus, um vorzuführen, wie perfekt sie marschieren können und wie geschmeidig sie dem Befehl Folge leisten, die Augen geradeaus zu richten und, am Ziel angekommen, die Rührt-euch-Stellung einzunehmen. Von der Schule in der Calle Bolívar ziehen sie zunächst durch die Calle Moreno bis zur Avenida Belgrano, durch Belgrano geht es weiter bis zur Calle Defensa, wo sich die Kirche des heiligen Dominikus befindet; umgeben von Büsten berühmter Griechen ruhen dort, im Eingangsbereich des weihevollen Hauses, die Überreste des großen Mannes.
    Die Umstände sind tatsächlich außergewöhnlich, weswegen es nur folgerichtig scheint, eine Ausnahme zu machen, die eben darin besteht, daß die Schüler fast einen Monat früher als gewöhnlich durch die Straßen ziehen, also am 25. Mai statt am 20. Juni, oder am 25. Mai zusätzlich zum 20. Juni, und daß sie diesmal in der entgegengesetzten Richtung marschieren, also von der Calle Bolívar zur Calle Alsina und von dort durch die Diagonale Julio Argentino Roca, um die Plaza de Mayo schließlich genaugegenüber dem Stadthaus zu betreten. Ihr Ziel ist die Teilnahme an der öffentlichen Feierstunde zum Jahrestag des ersten Freiheitsrufes ganz Südamerikas. Es nieselt und ist windig, aber niemand darf sich darüber beklagen, schließlich war es der Überlieferung nach

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