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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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unterbrechen. Das hat Marré getan. Frau Perotti hört ihr zu und macht eine ermunternde Handbewegung; anschließend schreibt sie etwas in die entsprechende Spalte ihres Notenbüchleins. Danach äußert sie sich zu dem, was Marré gesagt hat, ihrenArgumenten folgt María Teresa jedoch nur teilweise. Was nicht heißt, daß sie, insgesamt gesehen, nicht zuhören würde – auch wenn sie nicht zu den Schülern dieser Klasse gehört, sondern deren Aufseherin ist und als solche dafür verantwortlich, den Diaprojektor zu bedienen und darauf zu achten, daß alle sich korrekt benehmen. Zudem interessiert sie das Thema, und die Stimme von Frau Perotti gefällt ihr auch. Natürlich läßt ihre Aufmerksamkeit zeitweilig nach; dann schweifen ihre Gedanken weit von dem Thema ab, das gerade behandelt wird, was sie sich ebendeshalb erlauben kann, weil sie keine Schülerin, sondern die Aufseherin dieser Klasse ist. Mal länger, mal kürzer wird ihr bewußt, allzu bewußt, was ihre Augen sie zwar nicht sehen lassen, was sie jedoch sehr wohl weiß: In der Bank hinter ihr sitzt Baragli. Es gibt keinen Grund anzunehmen, Baragli könne anderswo hinsehen, nicht nach vorne – zur Leinwand, zu den Bildern darauf, den Gemälden von Cándido López. Es gibt keinen Grund anzunehmen, Baragli sehe sie an, ihre Haare oder ihre Schultern – wo sie ihm nun einmal so nahe ist. Doch genau das denkt María Teresa, und durch diesen Gedanken wird sie unaufmerksam. Es kommt ihr vor, als wäre sie nicht Baragli selbst ausgeliefert – das ist undenkbar –, dafür aber seinen Blicken. Vielleicht legt er gerade – scheinbar, ohne es selbst zu merken – eine Hand auf sein Pult. Das Holz der Schultische ist gemasert, und in einer Ecke der Schreibfläche ist ein Loch, noch aus der Zeit, als die Schüler des Colegio zum Schreiben Tintenfässer brauchten. Vielleicht legt Baragli gerade eine Hand ebendorthin, wie unabsichtlich, und versucht dann, sie spielerisch immer näher an sie heranzuschieben. Sie spürt, wie sich ihr Nacken versteift, die bloße Vorstellung, er könne sieberühren, reicht dafür aus, obwohl sie gleichzeitig weiß, daß das nicht zu erwarten ist, daß das unmöglich ist.
    Cándido López hat auch ein Selbstporträt gemalt. Kein Selbstporträt aus weiter Ferne – und zudem verschlüsselt – wie auf dem Bild der Schlacht von Curupaití, sondern ein ganz normales, offensichtliches Selbstporträt: Sein Gesicht ist im Vordergrund zu sehen. Trotzdem ist etwas an dem Bild seltsam. Man könnte meinen, in dem zurückhaltenden Gesichtsausdruck liegt ein gewisses Erschrecken. Besonders auffällig ist das Haar, die Art, wie es am Kopf anliegt, wie mit Pomade geglättet, später, in der Zukunft, sollten manche Männer aus der Welt des Tangos es so tragen. Doch Cándido López’ Haltung verrät eine innere Unrast, Angst spielt um den Mund, die Augen, so als hätte man ihn mit einer Fotokamera überrascht, während er doch einem Menschen Modell gestanden hat.
    »Aber López hat hier niemandem Modell gestanden, er hat sich selbst porträtiert. Er sieht sich im Spiegel. Das Gesicht gibt den Eindruck wieder, den er auf sich macht.«
    Lange anhaltend läutet es, die Kunststunde ist zu Ende. Frau Perotti verstaut ihre Sachen in der Aktentasche. María Teresa zieht den Diahalter aus dem Projektor und nimmt eins nach dem anderen die Bilder heraus, die sie gerade zu sehen bekommen haben; anschließend steckt sie sie, wiederum eins nach dem anderen, in die Pappschachtel, in der die Dias aufbewahrt werden. Währenddessen erheben sich die Schüler aus den Bänken, um in die Pause zu gehen. So auch Baragli, der dabei ganz nahe an María Teresa vorbeikommt. Sie sitzt noch und ist mit den Dias beschäftigt, während er den engen Gang zwischen denBänken durchquert. Der Rand seines blauen Jacketts streift ihre Hand. Durch die Berührung erstarren ihre Finger, als hätte sie jemand plötzlich beim Namen gerufen. María Teresa zwingt sich, die Arbeit fortzusetzen. Trotzdem kann sie es nicht lassen, auf den Geruch zu achten, den Baragli im Vorbeigehen verbreitet. Sie hofft gewissermaßen, es möge sich erneut um den Geruch nach schwarzem Tabak handeln, den sie aus der Erinnerung kennt, aus der kindlichen Erinnerung an ihren Vater nach dem Abendessen. Sie stößt jedoch auf etwas anderes, eine Überraschung, wenn auch keine Enttäuschung: Baragli verströmt einen starken Duft nach Männerparfüm. Übermäßig eitel braucht man nicht zu sein, um Parfüm aufzulegen,

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