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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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weder an den Bruder,der Postkarten schickt, noch an den Vater, von dem nicht einmal Postkarten kommen. An sie nicht und auch nicht mehr an Baragli; bestenfalls denkt sie – obwohl denken hier eigentlich übertrieben klingt – daran, wie angenehm dieser Geruch ist, der Geruch des Parfüms Colbert; währenddessen sieht sie zu, wie die Verkäuferin geschickt mit Schachtel, Geschenkpapier und Klebeband hantiert, bis schließlich ein vollkommenes Päckchen vor ihnen steht, auf das die Verkäuferin abschließend ein silbernes Schildchen mit der Aufschrift »Felicidades« klebt.
    In der Eile vergißt María Teresa beinahe, auch das zu kaufen, weswegen sie eigentlich hergekommen ist, die Antidepressiva für ihre Mutter. Sie denkt gerade noch rechtzeitig daran; in dem Augenblick, in dem sie die Geldbörse hervorholt, um das Parfüm zu bezahlen, fällt die Krankenversicherungskarte auf den Verkaufstresen und läßt das einstige Gesicht ihrer Mutter in Schwarzweiß sehen.
    »Ach ja, das hätte ich fast vergessen.«
    Kurz darauf sitzt sie allein in der U-Bahn, in der Hand eine Plastiktüte. Darin sind zwei Schachteln, die eine ist extra verpackt, die andere nicht. Der Parfümduft ist so stark, daß man merkt, wie er das Innere der Tüte erfüllt, während er aus dem Fläschchen, der Schachtel, der Verpackung quillt. María Teresa beugt sich immer wieder darüber und sieht hinein, so als wollte sie sich einer Sache vergewissern, als befände sich ein Haustier darin (eine Schildkröte oder ein Hamster oder ein neugeborenes Kätzchen) und sie müßte in regelmäßigen Abständen überprüfen, ob es ihm auch gutgeht, ob es genug Luft bekommt. Sie nimmt sich vor, zu Hause, noch bevor sie ihrer Mutter die Schachtel mit den Tabletten aushändigt, damit sie sie ins Apothekenschränkchen im Bad legt, das Päckchen mitdem Parfüm Colbert in der Nachttischschublade zu verstauen.
    Auf dem Eßtisch wartet eine neue Postkarte ihres Bruders, abgeschickt in Bahía Blanca. Francisco, das ist das einzige, was darauf steht. Die Mutter, die in der letzten Zeit nur gelegentlich weint, hat die Karte diesmal selbst gelesen und sagt, sie versteht nicht, warum ihr Sohn nur ein einziges Wort auf die Karte geschrieben hat. María Teresa sagt zur Erklärung irgend etwas von wegen »zuwenig Zeit« und »jedes Wort kostet« (die Mutter weiß, daß es eine Postkarte und kein Telegramm ist, aber sie verzichtet darauf, ihr zu widersprechen). Auf der Karte ist allerdings nicht Bahía Blanca abgebildet – so, als gäbe es dort nichts, was die Herstellung einer Postkarte rechtfertigen könnte. Oder vielleicht doch, und nur Francisco ist es nicht der Mühe wert erschienen. Jedenfalls zeigt die Postkarte, die er in Bahía Blanca eingeworfen hat, einen nahe gelegenen Badeort mit Namen Monte Hermoso. Der ganze Stolz der Bewohner dieses Städtchens ist es, daß man bloß hier, nirgendwo sonst in Argentinien, die Sonne über dem Meer nicht nur aufgehen, sondern auch untergehen sehen kann. Was die Karte beweist, indem sie in zwei Hälften aufgeteilt ist: Auf der einen steht das Wort »Sonnenaufgang« über der Ansicht eines menschenleeren Strandes samt eines Streifens Meer, aus dem sich gerade die Sonne erhebt, auf der anderen steht »Sonnenuntergang« über der Ansicht eines goldglänzenden Sandstreifens, auf dem zwei Frauen in unverkennbar altmodischen Badeanzügen träumerisch in die untergehende Sonne blicken. Diese beiden derart kombinierten Fotos, die eigentlich auf so etwas Banales wie Sommer und Ferien verweisen sollen, rufen Mutter und Schwester letztlichnur in Erinnerung, was sie ohnehin wissen: daß Francisco sich mittlerweile am Meer befindet. Nicht allzuweit entfernt, stimmt schon, immer noch innerhalb der Provinz Buenos Aires; aber eben nicht mehr inmitten des weiten Flachlandes, sondern an der Küste, weiter südlich und an der Küste, tatsächlich am Atlantik.
    »Wir waren nie in Monte Hermoso. Deine Vettern schon, ein paarmal, vor Jahren.«
    »Meine Vettern?«
    »Ja.«
    »Hat es ihnen gefallen?«
    »Sie haben gesagt, ja, aber sie hatten auch einiges auszusetzen. Anscheinend kann man dort gar nicht baden, das Wasser ist immer viel zu aufgewühlt und kalt.«
    Bald darauf verdüstern sich die Aussichten. Womöglich kommt noch die eine oder andere Postkarte aus Monte Hermoso, mit Poststempel von Bahía Blanca. Letztlich verweist ihr Eintreffen aber nur jedesmal wieder darauf, daß die Lage inzwischen ganz anders ist: Francisco ist längst nicht mehr dort,

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