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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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wenn man ins Colegio geht, aber sie hätte das trotzdem nicht erwartet, oder wenigstens nicht von Baragli.
    Der Geruch drängt sich auf, bleibt haften. Später kann sie ihn erneut hervorrufen, fast nach Belieben, ganz klar ist nur nicht, ob sie sich bloß daran erinnert oder ob Spuren davon in ihrer Nase verblieben sind. Bevor der Tag zu Ende geht (der Arbeitstag, der Tag im Colegio), kommt Herr Biasutto zu ihr und bestätigt noch einmal die Verabredung für den Montag. Es ist ratsam, eine eher unauffällige Bar aufzusuchen, die Wahrscheinlichkeit, dort von einem Schüler des Colegio gesehen zu werden, sollte möglichst gering sein – die Schüler neigen dazu, sich irgendwelche Phantasiegeschichten auszudenken, die sie dann überall herumerzählen. Sie verabreden sich für Montag um sieben in einer Bar mit gedämpfter Beleuchtung an der Ecke Balcarce/Moreno, wo die Schüler des Colegio für gewöhnlich nicht vorbeikommen.
    Zufrieden tritt María Teresa auf die Straße hinaus. Es ist Anfang Juni, und es ist schon kalt, dieses Jahr ist es kälterals sonst. Trotzdem ist María Teresa zufrieden, auch daß es schon dunkel ist; und daß es, was ihre Erkundungszüge auf der Knabentoilette angeht, kein guter Tag gewesen ist, tut ihrer Zufriedenheit keinen Abbruch. Sie ist schlicht und ergreifend zufrieden. Anders als sonst macht sie sich nicht sofort auf den Heimweg. Sie muß noch bei einer Apotheke vorbeigehen, um eine neue Schachtel Antidepressiva für ihre Mutter zu besorgen. Sie hat sie darum gebeten – von der letzten Schachtel sind nur noch ein paar Tabletten übrig. María Teresa hat eins der Rezepte dabei, die einer ihrer Vettern in dem Krankenhaus bekommt, wo er arbeitet – freilich nicht ohne Gegenleistung. Außerdem hat sie einen Ausweis in der Tasche, der ihr einen fünfzehnprozentigen Preisnachlaß sichert. Darauf klebt ein zwanzig Jahre altes Foto von ihrer Mutter; so sah sie aus, als María Teresa gerade zur Welt gekommen war.
    An der Ecke Alsina/Defensa ist eine Apotheke, die María Teresa besonders gut gefällt; die Auslage, die Namensschilder, die Verkaufstheke, ja selbst die in den Regalen aufgereihten Gefäße vermitteln den Eindruck einer Apotheke aus der guten alten Zeit von Buenos Aires. Viel Glas und die eleganten und dennoch schlichten Verzierungen, das gefällt ihr. Dort kauft sie immer die Medizin für ihre Mutter, doch als sie diesmal hineinkommt, fällt ihr etwas auf, was sie bis dahin noch nie bemerkt hatte: Die Apotheke – wie so viele in dieser Stadt – hat auch eine Parfümabteilung. Schüchtern nähert sie sich diesem Bereich des Geschäftes, sie möchte nur mal einen Blick darauf werfen. Sie sieht die aufgereihten Deodorants, die Döschen mit Hautpflegecreme, Nagellack in verschiedenen Farben und wackelige Seifenstapel. Das alles läßt sie jedocheher gleichgültig. Dafür bleibt sie vor einem Regal voller Schachteln und Gefäßen mit Herrenparfüm stehen. Es gibt alle möglichen Sorten, sie kennt keine davon. Für eine der Angestellten denkt sie sich eine Geschichte von einem Geburtstag in ihrer Verwandtschaft aus und fragt, ob man die verschiedenen zum Verkauf stehenden Düfte einmal ausprobieren darf.
    »Daran riechen, ja, aber nicht aufsprühen.«
    María Teresa greift zunächst nach einer roten Schachtel mit einem blauen Segelschiff darauf. Sie riecht daran und stellt sie zurück. Dann versucht sie es mit einem Parfüm mit dem Namen Crandall. Es befindet sich in einem Fläschchen mit langem Hals, das Etikett auf der Vorderseite sieht ungewöhnlich aus. Der Duft gefällt ihr, es ist aber nicht der gesuchte. Das nächste, das sie probiert, heißt Ginell und ist mit zwei Polopferden dekoriert. Auch nicht, wonach sie sucht. Dann unternimmt sie einen Versuch mit einer Marke, die Colbert heißt. Die dazugehörige Schachtel ist dunkelgrün, vielleicht nennt man das englischgrün, sicher ist sie sich nicht. Kaum führt sie es an die Nase, weiß sie Bescheid: Das ist das Parfüm, das Baragli aufgelegt hatte. Damit weiß sie, daß Baragli dieses Parfüm benutzt, daß er eine ebensolche Schachtel bei sich zu Hause im Bad stehen hat. Sie beschließt, sie mitzunehmen, und teilt dies der Verkäuferin mit, die ein wenig mißtrauisch neben ihr steht. Sie weiß selbst nicht genau, warum sie dieses Parfüm kauft.
    »Soll es ein Geschenk sein?«
    »Ja.«
    Bei María Teresa zu Hause gibt es keine Männer. Ihr Vater ist fort, und ihr Bruder ist im Süden. Aber an sie denkt María Teresa gar nicht –

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