Sittenlehre
das dazugehörige Bild auf dem Kopf stehend erscheint. Ebenso achtet sie darauf, daß nicht wieder ein Schüler versucht hat, einen Streich zu spielen, wie es gelegentlich vorkommt – indem ein Dia dazwischen geschoben wird, das nicht das geringste mit dem zu behandelnden Thema zu tun hat. So kann es zum Beispiel sein, daß wie erwartet Bilder von ionischen und anschließend von dorischen Säulen aufeinanderfolgen oder eine lange Reihe assyrischer Basreliefs, und plötzlich, ohne jeden Anlaß, ohne jede Vorankündigung, ist ein Familienbildzu sehen, Mama, Papa und zwei Kinder, die am Strand von Miramar in die Kamera lächeln. Was noch nicht das schlimmste wäre. Man erzählt sich, daß vor einigen Jahren ein Lehrer zur Begleitung seines Geschichtsunterrichtes Farbbilder von Napoleon Bonaparte vorführte, doch urplötzlich sei zwischen einem beeindruckenden Porträt des großen Korsen hoch zu Roß und einem weiteren, auf dem Napoleons Kaiserkrönung in Notre-Dame zu sehen war, das unerhörte Bild einer nackten Frau erschienen (eine Schauspielerin aus den USA mit Namen Raquel Welch), die lachend und mit im Wind wehenden Haaren ihre Brüste zur Schau stellte.
Nichts dergleichen soll jetzt geschehen. María Teresa vergewissert sich noch einmal: Im Halter befinden sich exakt vierundzwanzig Dias mit Kriegsbildern von der Hand des Malers Cándido López. Der Projektor steht auf der zweiten Bank der dritten Reihe, genau in der Mitte des Zimmers, und er ist auf die Leinwand ausgerichtet, die Frau Perotti vor die Tafel gehängt hat. Um ihn bedienen zu können, mußte María Teresa sich auf den Platz eines Schülers setzen (den von Rubio, der sich seinerseits an den Platz von Iturriaga gesetzt hat, der heute nicht da ist). Noch nie hat María Teresa an diesem Platz gesessen. Noch nie hat sie die Dinge so wie die Schüler gesehen. Das Lehrerpult wirkt auf einmal höher, die Tafel scheint die gesamte Stirnwand einzunehmen, die Tür ist viel weiter weg, die verriegelten Fenster ebenso, und es ist gar nicht so einfach, sich zwischen den am Boden festgeschraubten Bänken hindurchzubewegen, insbesondere wenn, wie sich herausstellt, die Schreibfläche des eigenen Pultes und die Rücklehne des Vordermannes Teile ein und desselben Möbels sind. Und wer normalerweisehinter Rubio, heute aber hinter ihr sitzt, ist niemand anderes als Baragli.
Cándido López kämpfte unter dem Befehl von General Mitre. Er machte, was man in jedem Krieg macht: Man versucht zu töten und sich selbst nicht töten zu lassen. Wie alle anderen auch bemühte er sich, die hitzigen Kämpfe in Paraguay zu überstehen, die sich als besonders blutig und grausam erwiesen. Er beschränkte sich jedoch nicht darauf, heldenhaft oder einfach nur ergeben zu tun, was der Gehorsam eines guten Soldaten verlangt. Er tat noch mehr, er tat, was niemand von ihm erwartete noch verlangte: Indem er künstlerisches Geschick und eine gute Beobachtungsgabe an den Tag legte, fertigte er eine Vielzahl von Bleistiftskizzen an, die Szenen aus dem Feldzug der argentinischen Truppen wiedergaben, darunter auch das ungezügelte Chaos der offenen Schlacht. Dies kam Mitre zu Ohren: In den Reihen seiner Soldaten gab es einen, der Entwürfe zu Papier brachte, die er später zu großen Kriegsgemälden ausgestalten wollte. Diesen seltsamen Malersoldaten wollte Mitre kennenlernen. Er ließ ihn zu sich kommen, begutachtete seine Zeichnungen, fragte ihn nach seinem Namen, ermunterte ihn, die Arbeit fortzusetzen. Cándido López erfaßte mit großem Geschick den weit ausgedehnten Himmel, die Erscheinung der flachgedrückten Erde, die harsche Feuchtigkeit des Sumpflandes, die Art, wie sich die Truppen über das Gelände verteilten, eng aneinandergedrängt und zugleich jeder für sich.
In der Schlacht von Curupaití verlor er eine Hand, die Rechte – die Hand, mit der er malte. Eine explodierende Granate fügte ihr irreparablen Schaden zu. Die von dem Geschoß verursachte Wunde heilte nicht wie vorgesehen,und nach einigen Tagen setzte der Wundbrand ein. López erlitt einen noch größeren Verlust: Ihm mußte der Arm amputiert werden. Da er unter diesen Umständen nicht mehr am Krieg teilnehmen konnte, wurde er nach Buenos Aires zurückgeschickt. Für ihn war der Dreibundkrieg damit beendet, auch wenn er in der Geschichte noch weiterging. Von da an trainierte er die andere Hand, die weniger geschickt, aber nun seine einzige war, bis sie die nötige Kunstfertigkeit erlangt hatte, um zu malen – und zwar
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