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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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er ist verlegt worden. Er ruft an – er hat nur eine einzige Telefonmünze zu Verfügung, also kann er nur ganz schnell etwas in den Hörer hineinsagen – und teilt mit, daß er ein Flugzeug besteigen muß, das ihn weiter nach Süden bringt. Weiter nach Süden: nach Comodoro Rivadavia. Nein, nein, das ist nicht mehr in der Provinz Buenos Aires, das ist in der Provinz Chubut. Ja, genau, Patagonien. Nein, nein, keine Lastwagen, ein Flugzeug, von der Luftwaffe, Hércules heißen die. Hércules, genau, Hércules. Nein, nein, er hat keine Ahnung, niemand hat eine Ahnung. Ja, am Meer, genau: direkt am Meer.

Der Hort der Aufklärung
    María Teresa sitzt im Aufseherzimmer und füllt Tabellen aus. Plötzlich verspürt sie das Bedürfnis, auf die Toilette zu gehen. Sie kommt nicht einmal mehr auf den Gedanken, zu tun, was eigentlich zu erwarten wäre: daß sie nämlich auf die Aufseherinnen-Toilette geht. Weder auf die Aufseherinnen- noch auf die allgemeine Damen-Toilette. Statt dessen steuert sie geradewegs die Knabentoilette an. Wie immer tritt sie ein, ohne daß es jemand hört oder sieht, und sie überlegt auch nicht lange, sondern begibt sich sogleich in die erste Kabine. Mittlerweile ist ihr Bedürfnis ziemlich dringend geworden, weshalb sie unverzüglich den Rock hoch- und den Schlüpfer auszieht. Sie geht in Stellung, um sich möglichst rasch Erleichterung zu verschaffen, doch auch so braucht sie ein Weilchen, um zu entspannen, nur unter dieser Voraussetzung kommt der Urin in Fluß. Während sie wartet und entspannt, hört sie das bekannte Geräusch der Schwingtür, es hat also ein Schüler die Toilette betreten. Sie bricht ihre Vorbereitungen ab und lauscht angespannt, nichts soll den Schüler von dem Glauben – von der Überzeugung – abbringen, daß er völlig allein hier ist, jetzt, wo er ans Pissoir tritt, seine Hose aufmacht und anfangen möchte zu pinkeln. Vielleicht benötigt auch er ein kleines Vorspiel, bevor er loslegen kann, denn offenkundig hat er inzwischen alles vorbereitet, um anzufangen – er fängt jedoch nicht an. Kann sein, daß es an der Kälte liegt, daß die ihnabhält – bei María Teresa ist es nicht anders. Sie spürt zudem immer stärker dieses so besondere Gefühl, einen Rock an-, aber nichts darunter zu haben. Man könnte meinen, man ist draußen im Hof, so kalt ist es hier. Der entblößte Körper muß sich erst daran gewöhnen, wenn sich alles zusammenzieht, wird es schwierig mit dem Ausscheiden. Der Schüler ist schließlich soweit, vielleicht hat er sein Ding da draußen zunächst ein Weilchen umfaßt und auf diese Weise angewärmt. Jedenfalls merkt sie es sofort, als er anfängt zu pinkeln, das Geräusch, das die austretende Flüssigkeit hier auf der Toilette des Colegio hervorruft, kennt sie inzwischen genau. Doch statt sich wie sonst in Gegenwart eines pinkelnden Schülers in Luft aufzulösen – und dafür in die Rolle der zurückhaltenden und zugleich in vollen Zügen genießenden Wächterin zu schlüpfen –, fängt sie diesmal, zu ihrer eigenen Verwunderung, ebenfalls an zu pinkeln. Freilich ohne dies nun besonders laut zu tun, also nicht in der Absicht, bemerkt zu werden, obwohl sie in der Tat, dessen ist sie sich bewußt, ein gewisses Risiko eingeht. Sie folgt einfach einem Impuls, einem Wunsch, der auf einmal da ist, obwohl sie, während sie ihm nachgibt, den Eindruck hat, daß dieser Wunsch schon seit einigen Tagen in ihr angewachsen ist. Sie pinkelt gleichzeitig mit dem Schüler – in seiner Nähe, zusammen mit ihm. Natürlich nicht auf die gleiche Art und Weise, er ist schließlich männlichen Geschlechts; also nicht auf die gleiche Weise, dafür aber am selben Ort und, was noch besser ist, zur selben Zeit. Was sie voneinander trennt, fällt nicht allzusehr ins Gewicht: eine dünne Wand, die sie einerseits verschiedenen Räumen zuweist, andererseits eine doppelte Gleichzeitigkeit herstellt – beider Geräusche verschmelzen miteinander (deshalbist sie auch nicht zu hören), genau wie das, was jeder von ihnen in diesem Moment macht.
    Würde María Teresa darüber nachdenken – sie denkt aber keinesfalls darüber nach –, würde sie höchstens zugeben, daß sie hierbei eine schwer zu bestimmende und ebenso schwer aufrechtzuerhaltende Form persönlicher Befriedigung erlebt, die zweifellos der Tollkühnheit zuzuschreiben ist, die sie sich bei der Erfüllung ihrer Pflicht herausnimmt. Nicht immer ist es moralische Gleichgültigkeit, was einen dazu bringt, seinen

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