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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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gut zu malen. Dies gelang ihm, wie einem überhaupt nur etwas gelingt: durch Ausdauer und Entschlossenheit. Und so begann er, sein großes Werk Wirklichkeit werden zu lassen – die große Gesamtschau dessen, was dieser Krieg gewesen war.
    Frau Perotti gibt María Teresa ein Zeichen, es geht los. Die Mechanik des Projektors ist plump und beschränkt. Man könnte denken, es klemmt etwas, aber nichts klemmt, so funktioniert dieser Apparat einfach. Das erste Bild ist ganz verschwommen – man muß die Linse scharf stellen. Das macht man, indem man mit zwei Fingern daran dreht. Und das macht María Teresa jetzt auch, bis man etwas erkennen kann. Man sieht eine flach hingestreckte Ebene, darüber verteilt kleine Männchen, winzige Pinselstriche. Diese kleinen Männer, ihre Kanonen, Gewehre, die Zeltdächer, die Schutz bieten sollen, die brennenden Lagerfeuer: das alles macht den Eindruck einer Welt in Miniaturformat. Am folgenden Werk erkennt man es besser: All der Himmel, so viel Himmel – dadurch weitet sich der Raum. Ein Blick von oben, ein Panorama. Der Zeigestab deutet auf das durchdringende Grün der Vegetation, die herausgehobene Stellung der Allee innerhalb der Komposition, die Art, wie der Wasserlauf die Fläche durchschneidet.Die Männer sind rot und haben keine Gesichter. Sie leben durch die Pinselführung. Diese erzeugt den Eindruck großer Entfernung, zugleich ist aber jedes Detail sorgfältig ausgeführt. María Teresa läßt Bild auf Bild folgen, das Denken wird dabei durch die Handbewegung ersetzt, die den Mechanismus in Gang hält. Der Zeigestab wandert umher: Die vollkommene Durchdringung von Genauigkeit und bloßer Andeutung. Und jetzt der Krieg. Der Krieg, Curupaití. Der Blick von der Anhöhe, das Panorama, Aktion – Cándido López kennt das Kino nicht, kann es nicht kennen, weil es noch nicht existiert, aber er hat offensichtlich bereits eine Vorstellung davon. Eine unscharfe, verwischte Stelle: Der Rauch der Kanonen, der als weiße Wölkchen aufsteigt, vermischt sich mit den Umrissen der Wolken am blauen Himmel. Indem er die Ansicht der Schlacht heraufbeschwört, wird López zu einem Spezialisten in der Kunst der Darstellung gleichzeitig ablaufender Prozesse. Genau so ist eine Schlacht: ein Gesamtzusammenhang, die Truppen als ein großes Ganzes, alle sind damit beschäftigt, zu kämpfen – so bietet es sich vielleicht einem General dar, einem Strategen, einem Künstler, Gott; gleichzeitig kämpft jeder aber auch für sich selbst, versucht, seine Haut zu retten, der eine stößt zu, der andere wird durchbohrt, der eine schießt, der andere stürzt zu Boden, der eine geht in Deckung, der andere läuft davon, der eine liegt im Sterben, der andere ist schon tot, und der da auch, und der da auch. Alle kämpfen miteinander, und jeder kämpft für sich, und Cándido López malt sie alle zusammen und jeden einzelnen von ihnen. Der Zeigestab hält an und tippt immer wieder auf eine Stelle.
    »Sehen Sie mal, hier, nicht woandershin sehen. Hier.«
    Was sieht man da? Einen am Boden liegenden Mann. Er liegt am Boden, ist aber nicht tot, bloß verletzt, mitten im Getümmel der Schlacht bei Curupaití. Verletzt ist er, man sieht das Blut: Die Rottöne von Cándido López. Den hat es erwischt, den haben sie getroffen, er wird nicht sterben, aber er ist verletzt. Verletzt an einem Körperteil, der nicht lebenswichtig ist, dessen Verlust sich aber trotzdem deutlich bemerkbar macht. Die Verletzung betrifft seine Hand. Man sieht dieses Detail auf dem Bild der Schlacht bei Curupaití und begreift: Cándido López hat sich hier selbst gemalt. Winzig klein, fast könnte man ihn übersehen, aber da ist er. Vielleicht ist dies das zurückhaltendste, diskreteste aller möglichen Porträts; aber da sieht man ihn. Der gesamte Krieg, und an einer Stelle dieses Krieges er selbst. Er selbst und seine Wunde.
    Marré hebt die Hand, sie möchte etwas sagen. Frau Perotti erlaubt es ihr.
    »An dem Maler gefällt mir, daß er mitten im Krieg war, aber er malt den Krieg so, als wäre er nicht dabeigewesen.«
    Marrés Beitrag bringt María Teresa ein wenig durcheinander, vielleicht ist sie aber auch nur überrascht. Nicht durch das, was Marré gesagt hat, darüber maßt sie sich kein Urteil an, sondern durch die Tatsache, daß sie überhaupt etwas gesagt hat. Frau Perottis Rede floß so gleichmäßig und sicher dahin, daß María Teresa gar nicht auf den Gedanken gekommen wäre, jemand könne sich diesem Strom einfügen, ja ihn

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