Sittenlehre
Verpflichtungen nicht nachzukommen, oft genug geschieht dies aus purer Feigheit. Sie dagegen legt bei diesem Spionagespiel, das ihre Aufgabe als Wächterin ihr beschert hat, großen Wagemut an den Tag. Sie träumt von dem Moment, in dem Herr Biasutto sie dafür beglückwünschen wird, daß sie es hat möglich werden lassen, daß die Schüler, die heimlich im Colegio rauchen, hart bestraft werden können. Wie andere Spione auch, etwa die im Kino, war sie dazu gezwungen, sich auf ein Terrain zu begeben, das ihr eigentlich verwehrt ist, und das bringt immer Risiken mit sich. Die, die das Sagen haben, werden sie für ihre Verwegenheit loben und zugleich bestimmen, welcherart Verweis die jeweiligen Schüler der Schwere des von ihnen begangenen Verstoßes gemäß zu gewärtigen haben.
Der Schüler hört jetzt zu pinkeln auf, María Teresa ebenso. Sie weiß selbst nicht, ob es sich hier erneut um ein zufälliges Zusammentreffen handelt – warum sollte sich aus einem ersten solchen Zusammentreffen nicht auch ein weiteres ergeben können? – oder ob sie sich nicht doch ein wenig dazu gezwungen hat, beizeiten aufzuhören, um den köstlichen Gleichklang nicht zu unterbrechen.Mit einer starken Willensanstrengung ist es möglich, sogar – beziehungsweise vor allem – die Dinge zu beherrschen, nach denen der Körper verlangt, und sie nötigenfalls auch zu unterbrechen. María Teresa ist fertig oder unterbricht sich – auf den Unterschied kommt es letztlich nicht an –, jedenfalls hört sie in ihrer Kabine genau im selben Moment zu pinkeln auf wie der Junge draußen am Pissoir. Jetzt berührt er bestimmt gerade sein Ding da, in einem unauslotbaren Spiel von Tröpfeln und Fertigsein. Wie jeder weiß, reinigt sich eine Frau mit ganz anderer Tiefe. Eine Frau braucht Papier dafür, und sie muß sich abtrocknen. Das macht María Teresa jetzt auch, ohne hinzusehen, führt sie die Hand mit einem saugfähigen rosa Stück Papier an die entsprechende Stelle. Ohne zu reiben drückt sie es darauf, das heißt, ein bißchen reibt sie doch. Draußen, gleich da drüben, schüttelt der Schüler ab, sieht der Schüler sich an, sieht der Schüler genau hin; und sie drückt währenddessen ein wenig fester als eigentlich nötig; und weil es schließlich ums Abtrocknen geht, reibt sie auch ein wenig fester als nötig. Da ist es wieder, dieses Kitzeln, dieses Kitzeln, an dem sie erkennt, daß sie pinkeln möchte. Sie könnte sich fragen, woher dieses Kitzeln jetzt kommt, sie hat doch gerade erst aufgehört zu pinkeln, und sie könnte sich darüber wundern. Aber für sie ist klar, daß es damit zu tun hat, daß sie vorzeitig mit dem Pinkeln aufgehört hat.
Der Schüler ist einer von denen, die es genau nehmen; er wäscht sich die Hände, bevor er hinausgeht. Während er beide Hände unter den kalten Wasserstrahl hält, der aus dem Hahn kommt, und auch während er mit leisem Ingrimm an der eiförmigen Seife reibt, summt er ein Liedchen vor sich hin. Er summt, brummelt, aus vollem Halsesingt er nicht. Den Text kann María Teresa nicht verstehen, und der Name des Liedes fällt ihr ebensowenig ein, obwohl die Melodie ihr bekannt vorkommt. Auch so ist die Stimme des Schülers gut zu hören, nicht daß er die Worte des Textes besonders deutlich aussprechen würde, wie er auch die Töne nicht immer genau trifft, aber diese Stimme ist doch nicht zu überhören, wodurch die Aufseherin sich imstande sieht, sie zu erkennen. Die Stimme kommt ihr so bekannt vor, daß sie mit Bestimmtheit sagen kann, daß es sich um einen Schüler aus der zehnten Obertertia handeln muß. Sie denkt nach, versucht sich zu erinnern, mit allen Mitteln eine Verbindung herzustellen. Zwei Jungen aus der Klasse haben ähnliche Stimmen: Babenco und Valenzuela. Sie stellt sie sich in dem Moment vor, in dem sie »Hier« rufen, während sie die Anwesenheitsliste durchgeht. So hat sie diese Stimmen im Ohr, und sie stellt nun fest, daß die Stimme, die soeben auf der Toilette zu hören war, tatsächlich zu einem der beiden gehört; entweder Babenco oder aber Valenzuela war also gerade hier und hat ganz in ihrer Nähe gepinkelt, zur selben Zeit wie sie.
Kurz darauf ist sie wieder im Klassenzimmer und geht ihrer Aufgabe als Aufseherin nach (stimmt nicht, da täuscht sie sich: auf der Toilette, in der Kabine, erfüllt sie diese Aufgabe genauso). Die erste Pause ist zu Ende, jetzt hat die zehnte Obertertia Spanisch. Das gemeinsame Antreten, Abstandnehmen, In-die-Klasse-Gehen, Hinsetzen haben
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