Sittenlehre
mir wirklich sehr leid.«
Um das Thema zu wechseln – außerdem will sie nicht langweilig wirken –, sagt María Teresa jetzt, sie habe vor, sich weiterzubilden, allerdings habe sie noch nicht damit angefangen, sie wisse noch nicht genau, in welche Richtung es gehen soll.
»Es gibt so schöne Sachen, die Frauen lernen können.«
Herr Biasutto zündet sich eine Zigarette an. Er hat ein versilbertes Feuerzeug, das er anschließend wieder in die Jackentasche steckt. Den Rauch stößt er durch die Nase aus, sein Schnurrbart verschwindet in einer Wolke, ein wenig kneift er die Augen zusammen. Dabei lächelt er.
»Meine Mutter ist eine richtig gute Schneiderin. Das habe ich von ihr geerbt. Die Jacke hier, die ich anhabe, hat sie selbst gemacht.«
Herr Biasutto zieht eine Augenbraue hoch, die rechte.
»Ein sehr schönes Stück. Und es steht Ihnen ausgezeichnet.«
María Teresa wird wieder rot. So sehr, daß sie den Kopf senken muß.
»Herr Biasutto!«
Herr Biasutto schiebt die Hand über den Tisch, aberauf halbem Wege verliert er die Zielstrebigkeit und läßt die Hand zwischen dem Serviettenstapel und dem Aschenbecher, auf dem er die Zigarette abgelegt hat, liegen.
»María Teresa, bitte nennen Sie mich nicht so! Haben Sie wirklich Herr Biasutto gesagt? Wir sind hier doch nicht bei der Arbeit. Hier heiße ich einfach nur Carlos.«
»Carlos – das ist aber ein schöner Name.«
Der Kellner bringt, was sie bestellt haben: Milchkaffee für María Teresa, Whisky ohne Eis für Herrn Biasutto. María Teresa reißt nacheinander zwei Zuckertütchen auf und schüttet den Inhalt in ihre Tasse. Sobald der Zucker auf die bleiche Oberfläche ihres Getränkes trifft, verstummt das Rieselgeräusch.
»Zwei tun Sie rein?«
»Zwei Zucker, meinen Sie?«
»Ja, Zucker.«
»Ich tu zwei rein.«
»Stimmt doch, oder? Das Leben ist bitter genug.«
Herr Biasutto lächelt, María Teresa auch, denn er erklärt sogleich, er habe bloß einen Witz gemacht. Nein, im Gegenteil, er sei kein bißchen pessimistisch. Es wird still. Beide überbrücken den Moment mit einem neuerlichen Lächeln. Das Lächeln dauert allerdings nicht so lange wie die Stille, woraufhin María Teresa erklärt, sie betrachte sich auch als eine fröhliche Person. Wieder wird es still. Herr Biasutto raucht, und María Teresa rührt in ihrer Kaffeetasse.
»Auf manchen Zuckertüten stehen Sätze, kleine Lebensweisheiten. Die sammele ich immer.«
Herr Biasutto hatte sich zurückgelehnt. Jetzt beugt er sich wieder über den Tisch und stützt das Kinn auf die gefalteten Hände.
»Mögen Sie tiefsinnige Sprüche?«
María Teresa nickt.
»Ja, sehr. Daraus lernt man etwas fürs Leben.«
»Das stimmt. Über manche davon könnte ich stundenlang nachdenken. Die Menschen sind schon so eine Sache für sich. Ich hab bloß ein furchtbar schlechtes Gedächtnis. Wenn ich einen von diesen Sätzen lese, glaube ich immer, den vergesse ich nie, aber wenn ich ihn dann später wiederholen will, fällt er mir nicht mehr ein.«
»Mein Gedächtnis ist auch nicht das beste. Deshalb habe ich so ein kleines Buch, das heißt bei mir das Buch mit den weisen Sprüchen. Jedesmal, wenn mir ein tiefsinniger Satz unterkommt, schreibe ich ihn da rein.«
»Das ist aber schön, was Sie da sagen, María Teresa.«
María Teresa merkt, daß ihr wieder warm im Gesicht wird. Aber diesmal macht sie sich nichts daraus. Vielleicht gefällt es Herrn Biasutto ja, daß sie so schüchtern ist.
»Erinnern Sie sich noch an einen davon?«
»Einen was?«
»Einen von diesen Sätzen aus Ihrem Buch.«
»Da muß ich mal überlegen.«
»Hat ja keine Eile.«
Herr Biasutto lächelt. Er behält das Lächeln bei, als wartete er darauf, daß der Fotograf auf den Auslöser drückt. Währenddessen überlegt María Teresa.
»Ja, jetzt weiß ich wieder. Einer ist mir wieder eingefallen.«
»Und zwar …«
»Er geht so: ›Weine nicht, wenn die Sonne untergeht, mit Tränen in den Augen kannst du nicht sehen, wie schön die Sterne glänzen.‹«
»Das ist aber schön!«
»Da steckt viel Weisheit drin, oder?«
»Ja, allerdings.«
»Ich sage das oft zu meiner Mutter, immer wenn ich merke, daß sie traurig wird.«
»Ist Ihre Mutter oft traurig?«
»Sie macht sich Sorgen wegen meinem Bruder.«
»Das ist klar, oder? Ist doch klar – aber das wird schon. Da muß man bloß ein bißchen Vertrauen haben.«
»Ja.«
Herr Biasutto trinkt einen Schluck aus seinem Glas, sieht María Teresa dabei aber ununterbrochen an.
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