Sittenlehre
die Schüler bereits absolviert. Jetzt heißt es warten – natürlich in absolutem Schweigen –, bis die jeweiligen Lehrer eintreffen. Die brauchen noch vier oder fünf Minuten, um ihren Pausenkaffee auszutrinken, den lärmgeschützten Raum zu verlassen, der ihnen im Erdgeschoßzur Verfügung steht, die Treppe hinaufzugehen, den Gang zu durchqueren, die Klassenzimmertür zu erreichen. Während dieser Zeit sitzen die Aufseher vor den Schülern und achten sorgfältig darauf, daß die Ordnung aufrechterhalten wird. Mit aufmerksamem, aber auf nichts im besonderen gerichtetem Blick wird María Teresa gerade Zeugin des gehorsamen Schweigens der zehnten Obertertia. Irgendwann jedoch wird ihr Blick zwar nicht unaufmerksam, dafür aber richtet er sich zusehends auf etwas Besonderes – bald auf Babenco, bald auf Valenzuela. Während er wie ein Radar über die Gesichter der Schüler wandert, verlangsamt sich sein Tempo bei diesen beiden, hält er sich länger als nötig mit ihnen auf. Babenco oder Valenzuela, einer der beiden, wer, weiß sie nicht, hat kurz davor auf der Knabentoilette gesungen. Sie haben ähnliche Stimmen, es sind kräftige und gleichwohl kindliche Stimmen, einfach von denen ihrer Mitschüler zu unterscheiden, aber ebenso einfach miteinander zu verwechseln. Einer von ihnen hat Frau Pesotto, die in der zehnten Obertertia gerade Physik unterrichtete, um Erlaubnis gebeten und ist dann auf die Toilette gegangen. Etwas Seltsames geht jetzt in María Teresa vor. Ein Großteil dessen, was sie soeben in der Knabentoilette erlebt hat, geschah unter einer besonderen Voraussetzung: Der Schüler wußte nicht, daß seine Aufseherin, also María Teresa, in unmittelbarer Nähe von ihm ebenfalls pinkelte. Dennoch sucht sie, während sie jetzt im Klassenzimmer darüber wacht, daß die Schüler sich bis zum Eintreffen von Herrn Ilundain anständig benehmen, diese Blicke – den von Babenco, den von Valenzuela –, als könnten sie unmöglich nicht wissen, was gerade geschehen ist, als müßte ihnen instinktiv oder intuitiv klar sein, was aufder Toilette passiert ist, weshalb sich beim ersten zufälligen Aufeinandertreffen ihrer Blicke die vorausgegangene Komplizenschaft wieder einstellen, ihr Wissen darum bestätigt werden müßte. María Teresa kann sich gewissermaßen nicht vorstellen, daß sie und Babenco, oder sie und Valenzuela, gerade noch am selben Ort beieinander waren – wo sie sich abgetrocknet hat, ohne hinsehen zu können, während die beiden, einer von ihnen, Babenco oder Valenzuela, sein Ding abschütteln und sich sehr wohl dabei zusehen konnte –, und daß diese grandiose Nähe im Allerintimsten keinerlei Spuren in den Blicken hinterlassen haben soll, ja offensichtlich nicht einmal ein Aufleuchten wechselseitigen Erkennens hervorruft, wenn diese Blicke sich nun begegnen. Irgend etwas müßte dabei doch wachgerufen werden, ein ferner Widerhall des Erlebten – mit dem entschlossenen Blick der Wissenden würde sie jedenfalls gerne dafür sorgen. In Babencos Augen stößt sie jedoch bloß auf das Unstete, das den Kindischen und Beschränkten kennzeichnet (Babenco ist ein schlechter Schüler, er muß in allen Fächern Nachprüfungen ablegen), in Valenzuelas Augen dagegen auf die Abwesenheit des Unaufmerksamen (Valenzuela ist ein guter Schachspieler, er übt sich in der Kunst, sich ausschließlich einer Sache zu widmen und alles übrige vollständig auszublenden).
María Teresa gibt nicht auf: Sie durchbohrt sie mit dem Blick, als wollte sie ihnen eine Wahrheit abpressen, die sie ihr offenbar vorenthalten. Als wollte sie sie hypnotisieren, allerdings nicht auf die bekannte Art und Weise – sie versucht es vielmehr umgekehrt, ein Fingerschnipsen, und der andere fällt in Trance, und ein anhaltender, nachdrücklicher Blick, und der andere erwacht. Und im Erwachenkommt ihm auch wieder zu Bewußtsein, obgleich nur dumpf – aufgedeckt und dennoch weiterhin geheimgehalten –, was auf der Knabentoilette des Colegio zwischen ihnen vorgefallen ist. Auf die Idee, gerade der fehlende Widerhall in diesen sich ihrem Blick entziehenden Augen könne ein Zeichen dafür sein, daß Babenco oder Valenzuela, wer auch immer, keineswegs unberührt von dem Vorgefallenen ist, daß er vielmehr durchaus davon weiß, schließlich registriert der Körper von sich aus alle möglichen Dinge und läßt dies später, wenn auch auf ungewisse Art und Weise, offenbar werden – auf diese Idee kommt María Teresa jedoch nicht. Darauf kommt sie
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