Sittenlehre
nicht, oder so möchte sie es lieber nicht sehen – sie möchte, daß ihre Blicke, ihr eigener und der Babencos, oder ihr eigener und der Valenzuelas, sich treffen, und in diesem Aufeinandertreffen soll ein wie auch immer geartetes berauschendes Einverständnis aufblitzen.
Es gelingt ihr nicht, und das Eintreffen von Herrn Ilundain setzt ihren Versuchen ein Ende.
»Aufstehen.«
Einmal mehr wird der unabänderlichen Vorschrift, der zufolge die Schüler die Lehrer stehend zu empfangen haben, Genüge getan. Bevor Herr Ilundain sie begrüßt und zum Hinsetzen aufgefordert hat, ist ihnen dieses nicht erlaubt. María Teresa hat das Lehrbuch schon für ihn bereitgelegt. Sie bittet darum, die Klasse verlassen zu dürfen, und steigt mit raschen kurzen Schritten vom Pult. Beim Hinausgehen macht sie die Türe hinter sich zu. Kaum ist sie draußen, bleibt sie stehen und lehnt sich an die Wand. Sie blickt in das Licht, das die allezeit ohne Kontakt zur Außenwelt durch die Gänge zirkulierende Luft erhellt. Ihr ist ein wenig schwindlig. Ihre Hände zitternleicht, der Rücken ist von einer hauchdünnen feuchten Schicht überzogen. Heiß ist ihr nicht, sie trägt bloß eine Rüschenbluse und darüber eine Weste mit großen Knöpfen, die die Mutter ihr vor Jahren gestrickt hat, um zu schwitzen müßte sie eine ganze Menge mehr anhaben. Marcelo kommt vorbei, der Aufseher der achten Obertertia; er hat das Klassenzimmer verlassen, weil die Lateinlehrerin eingetroffen ist.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, alles in Ordnung.«
An diesem Nachmittag, oder vielmehr an diesem Abend, klären sich die letzten Einzelheiten ihrer Verabredung mit Herrn Biasutto. Die Bar, in der sie sich treffen wollen, ist weit genug weg vom Colegio, um den Chef der Aufseher hinsichtlich seiner Befürchtung zu beruhigen, sie könnten beim Verlassen der Schule von Schülern gesehen werden, allerdings auch nicht so weit, daß sie durch ihren Besuch tatsächlich das Umfeld ihrer Arbeit verlassen würden. Man könnte das Ganze – aber weshalb darüber reden? – als eine Erweiterung der Unterhaltungen bezeichnen, die sie für gewöhnlich im Aufseherzimmer oder während der Pause auf einem der Gänge führen. Etwas anderes wäre es zum Beispiel, wenn sie sich an einem Samstagnachmittag träfen oder zum Abendessen verabredeten.
Herr Biasutto kommt ein klein wenig später als María Teresa, aber deshalb nicht zu spät. Etwas hat ihn im letzten Augenblick im Colegio aufgehalten. Nichts Besonderes, er mußte bloß mit dem Studienleiter eine unbedeutende organisatorische Frage klären. Bei der Ankunft wirkt Herr Biasutto entspannt, er lächelt, und María Teresa stellt fest, daß sein Schnurrbart, wenn sein Gesicht sichbeim Lächeln in die Breite zieht, so dünn wird, daß man ihn fast nicht mehr wahrnimmt.
»Ich habe vorsichtshalber diese Bar vorgeschlagen, verstehen Sie? In ihrem Alter neigen die Schüler zu ausschweifenden Phantasien, denen soll man nicht auch noch zusätzlich Nahrung bieten.«
Der Kellner kommt an den Tisch. María Teresa bestellt einen Milchkaffee – mit mehr Milch als Kaffee –, Herr Biasutto einen Old Smuggler ohne Eis. Er stützt beide Ellbogen auf die Tischplatte und beugt sich María Teresa entgegen. Er lächelt. So genau hatte María Teresa ihn bis jetzt noch nie in Augenschein nehmen können. Er hat Pomade in seinem schwarzen Haar, seine Gesichtshaut ist ein wenig ungleichmäßig. Der Hemdkragen ist gestärkt, der Krawattenknoten ungewöhnlich groß. Er blinzelt fast nie, seine Augen wirken wie zwei Löcher. Die Zähne sind hinter seinen nachdrücklichen, konzentrierten Handbewegungen nicht zu sehen.
»María Teresa, erzählen Sie mir etwas von sich.«
»Von mir?«
»Aber natürlich, von Ihnen.«
María Teresa wird rot. Sie sagt, sie weiß nicht, was sie erzählen soll.
»Erzählen Sie mir etwas von Ihnen, über Ihr Leben. Mit wem leben Sie?«
Zögernd antwortet María Teresa, sie wohne zusammen mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung im Stadtteil Palermo. Genauer gesagt, mit ihrer Mutter und ihrem Bruder, aber ihren Bruder zähle sie im Moment nicht dazu, der sei nämlich zum Militär einberufen worden. Als Kind habe sie weiter weg gewohnt, in Villa del Parque.
Herr Biasutto legt eine goldfarbene Zigarettenschachtel auf den Tisch.
»Und Ihr Vater?«
»Mein Vater?«
»Ja, Ihr Vater.«
María Teresa schluckt.
»Mein Vater ist tot.«
»Ach herrje, das tut mir aber leid.«
»Er ist schon vor längerem gestorben.«
»Das tut
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