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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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verkündet, daß er von La Boca nach Olivos fährt. María Teresa gießt sich Limonade ein, die Flüssigkeit zischt leise. Wäre Eis in Herrn Biasuttos Whisky, könnte er ihn jetzt mit dem Finger umrühren, dann hätten seine Hände etwas zu tun. Da diese Möglichkeit ausscheidet, nimmt er noch eine Zigarette aus der Schachtel und zündet sie an. Die erste, die er bereits zu Ende geraucht hatte, liegt zerdrückt im Aschenbecher, als zu nichts mehr zu gebrauchender Stummel. Als er den ersten Mundvoll glatten Rauches ausstößt, fühlt Herr Biasutto sich schon weniger gereizt, die Wirkung ist die gleiche wie nach einem langen Seufzer. María Teresa dagegen ärgert sich immer nochüber sich. Auf dem Tisch liegt ein leeres Zuckertütchen, danach greift sie jetzt und zerreißt es in lauter gleich große Stückchen, so als wäre es ein geheimer Brief, der gleich nach dem Lesen für immer zum Verschwinden gebracht werden muß.
    Herr Biasutto, der bereit ist, wieder zu lächeln, so wie vorher, beschließt, María Teresa zu neuen Taten zu ermuntern.
    »Ich finde es gut, daß Sie mir solche Fragen stellen, glauben Sie mir.«
    María Teresa sieht ihn an, er lächelt.
    »Ich finde es gut, daß Sie mir diese Fragen stellen.«
    Auch María Teresa lächelt jetzt, allerdings ist sie wieder rot geworden. Herr Biasutto versucht sich verständlich zu machen.
    »Das war damals wirklich eine ziemlich schwierige Lage hier bei uns. Der Zusammenhalt der Gesellschaft war in Frage gestellt, da war entschlossenes Handeln angesagt, verstehen Sie?«
    Jetzt läßt María Teresa – womöglich unbeabsichtigt – die Hände ausgebreitet auf dem Tisch liegen.
    »Sie sollen sich damals sehr hervorgetan haben, sagen die anderen im Colegio.«
    Herr Biasutto lächelt, spielt den Bescheidenen.
    »Das hätte jeder an meiner Stelle getan.«
    María Teresa läßt nicht locker.
    »Aber Sie haben es wirklich getan. Die anderen hätten es vielleicht auch getan, aber Sie haben es wirklich getan.«
    Herr Biasutto bewegt die Hände, als wollte er den Rauch seiner Zigarette fortwedeln oder auch María Teresas Worte. Mit der Schmeichelei, die dahintersteckt, willer nichts zu tun haben, oder jedenfalls will er lieber auf ihr früheres Thema zurückkommen. Als er die Hände herabnimmt – er hat jetzt lange genug herumgefuchtelt –, legt er sie zwangsläufig in die Nähe von María Teresas Händen; diese, wie gelähmt, als sie es bemerkt, ist außerstande, ihre Hände wegzuziehen. Sie weiß, daß es genaugenommen um die Listen geht, weshalb sie das Gefühl hat, sie werde in ein ganz besonderes Geheimnis eingeweiht – daß Herr Biasutto dabei äußerst wortkarg bleibt, ändert an ihrem Eindruck nichts.
    Vielleicht läßt sie deshalb auch zu, daß Herr Biasutto macht, was er nun macht: Nach einer langsamen Handbewegung berühren seine Finger die ihren.
    »Also einen Verlobungsring kann ich nirgends entdecken.«
    Kaum hat er das gesagt, lächelt er wieder.
    »Nein, ich bin auch nicht verlobt.«
    Herr Biasutto senkt den Kopf. Einige Strähnen seines pomadierten Haares weigern sich, die Bewegung mitzuvollziehen, und bleiben waagrecht in der Luft stehen.
    »So ein hübsches Mädchen wie Sie.«
    María Teresa zieht jetzt die Hand zurück, aber ohne Hast.
    »Alles zu seiner Zeit.«
    Er nickt nachdenklich.
    »Ja, alles zu seiner Zeit, wie wahr.«
    »Das hat mein Vater immer gesagt – man soll im Leben nie den zweiten Schritt vor dem ersten machen.«
    Schweigen tritt ein, zwischen ihnen beiden, und auch draußen auf der Straße.
    »Das mit Ihrem Vater tut mir wirklich sehr leid.«
    »Danke.«
    Am frühen Abend verteilen sich lauter gleichartige Gestalten über die Bars im Stadtzentrum: Müde Büroangestellte, die trotz des langen Tages, den sie hinter sich haben, keinerlei Neigung verspüren, zu sich nach Hause zurückzukehren, und Leute im Zwiegespräch, die sich nach Feierabend endlich sagen können, wozu den ganzen Tag über nicht die Gelegenheit war. Später am Abend sieht die Sache jedoch anders aus. Man darf nicht vergessen, daß in diesen Teil der Stadt zwar viele Leute zum Arbeiten kommen, aber kaum jemand lebt auch hier. Aus allen möglichen Ecken und Winkeln – die einem, solange es hell ist, überhaupt nicht auffallen – tauchen unversehens düster und abgerissen wirkende Gestalten auf, die sich mit leeren Gesichtern hinter irgendwelchen Getränken niederlassen und so tun, als würde ihnen gleich ein Abendessen danebengestellt, wozu es aber wahrscheinlich

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