Sittenlehre
fast alle wurden gleich wieder eingefangen. Im Süden, tiefim Süden. Und am Meer. Direkt am Meer. Francisco hat gesagt, das macht er den lieben langen Tag: aufs Meer hinausschauen, aufs Meer, aufs Meer, aufs Meer.
Die Mutter hatte angefangen ihm zu berichten, wie weit sie mit dem Flugzeugzählen gekommen ist, aber in dem Moment wurde die Verbindung ohne jede Vorwarnung oder sonst einen Hinweis unterbrochen. Auf einmal war einfach das Besetztzeichen zu hören, obwohl sie mitten im Gespräch waren. Sie konnten sich nicht einmal voneinander verabschieden. Mutter und Sohn konnten sich nicht voneinander verabschieden. Sie hat noch eine Weile neben dem Telefon gewartet, den Blick auf die kleine Argentinienfahne geheftet, deren Stiel sie bis zur Hälfte unter die Wählscheibe geschoben haben, und gedacht, Francisco werde wenigstens noch einmal anrufen, um sich zu verabschieden. Aber er hat nicht wieder angerufen. Es ist jetzt schon eine Stunde her, und er hat nicht mehr angerufen.
María Teresa führt der Mutter vor Augen, daß es einigermaßen kompliziert sein muß, dort unten, so weit weg, an Telefonmünzen zu kommen, und allzuviel Zeit, um mit den Familienangehörigen zu sprechen, wird einem auch nicht zur Verfügung stehen, einmal abgesehen von der endlos langen Schlange vor dem öffentlichen Fernsprecher – die Kameraden wollen schließlich auch noch an die Reihe kommen. Obwohl sie feststellt, daß die Mutter sich wieder halbwegs beruhigt hat, daß sie jetzt die Nachrichten im Radio verfolgt und nicht mehr weint, bleibt sie bei ihr in der Küche und hilft, das Abendessen zu machen.
Nach dem Essen trinkt sie lieber keinen Kaffee. Trotzdem kann sie, als sie später im Bett liegt, nicht einschlafen.Wieder einmal wälzt sie sich mit weit aufgerissenen Augen hin und her. Sie denkt nach. Gerne würde sie aufhören nachzudenken, um endlich einschlafen zu können, aber das gelingt nicht, also denkt sie weiter nach. Sie denkt an Herrn Biasutto. Daran, wie er ihre Hände berührt hat, an seinen galanten Abschiedskuß. Wieder überlegt sie, ob es wohl zu einem zweiten Treffen zwischen ihnen kommen wird. Sie weiß – jeder weiß das –, damit es dazu kommen kann, muß der Anstoß von ihm ausgehen, er ist der Mann, sie die Frau. Das schließt aber nicht aus, daß sie ihren Teil dazu beiträgt, daß es tatsächlich soweit kommt.
Nicht, daß sie sich dafür unpassend verhalten sollte, auf eine Art, wie sie sich für ein Mädchen aus gutem Hause nicht gehört, aber sie könnte durchaus versuchen, ein Gespräch herbeizuführen, das ihre früheren Unterhaltungen gewissermaßen wiederaufnimmt oder darauf anspielt; oder sie könnte zu der im Colegio vorgesehenen Form, miteinander umzugehen, zurückkehren und Herrn Biasutto wieder als Herr Biasutto ansprechen, um ihm so Gelegenheit zu geben, in seinen Augen etwas aufblitzen zu lassen, was verrät, daß sie ihn bei einer anderen Gelegenheit, in einem anderen Moment, nicht so genannt hat – sondern Carlos.
Ob sie dazu imstande sein wird, weiß sie nicht; sie bezweifelt es. Anderen Mädchen fällt das leichter, ja bei ihnen geht das wie von selbst: Mühelos legen sie gerade das richtige Maß an Verheißung und Glanz in ihren Blick. Während sie womöglich nicht einmal mehr an Herrn Biasutto wird vorbeigehen können, ohne rot zu werden und sogleich zu Boden zu blicken. Er muß sie einfach langweilig gefunden haben, das kann gar nicht anders sein, sokommt es ihr in diesem Moment jedenfalls vor. Sie hört, wie die Mutter im Wohnzimmer den Fernseher ausschaltet. Gleich wird auch sie ins Bett gehen, es ist spät. Aber María Teresa kann immer noch nicht einschlafen. Jetzt überlegt sie, ob ein Mann, der eine Frau langweilig findet, ihr trotzdem einen solchen Prinzenkuß geben würde wie Herr Biasutto, als der sich an der Ecke bei dem Café, gegenüber der Kirche, von ihr verabschiedete.
Und auf einmal, ohne daß sie weiter darüber nachgedacht hätte, wie im Traum, tut sich ein Weg vor María Teresa auf. Ein Weg – so nennt sie es für sich selbst. Ein Weg, der sie zu einem neuerlichen Treffen mit Herrn Biasutto führen wird. Falls sie tatsächlich die betreffenden Schüler des Colegio beim heimlichen Rauchen auf der Toilette erwischt, wird das ein mehr als ausreichender Grund dafür sein, daß sie beide erneut ein über das Normale hinausgehendes Gespräch unter vier Augen führen. Und dieses Gespräch wird zweifellos nur wenig mit dem zu tun haben, das sie eine Woche oder zehn Tage
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