Sittenlehre
niemals kommen wird.
Da sie inzwischen so in ihr Gespräch vertieft sind, merken María Teresa und Herr Biasutto zunächst nichts davon. Sie reden über verschiedene Epochen im Verlauf der Geschichte dieses Landes: Über die guten Zeiten, als man noch Respekt vor dem anderen hatte und sich auf ein einmal gegebenes Versprechen verlassen konnte; über die Hippiezeit, als plötzlich alle Welt nur noch dreckig herumlief, Männer und Frauen wild durcheinander; bis dann das mit den Terroristen losging und Bomben in Kindergärten gelegt wurden. Herr Biasutto lebt schon ein paar Jährchen länger als María Teresa, darum weiß er einfach auch besser Bescheid. Jetzt sind die Jugendlichen ja wieder folgsamer und tun eher, was man ihnen sagt, aber die Gefahr, daß sie sich von Ideen aus dem Ausland anstecken lassen – von dem, was die Hormone alles anrichtenkönnen, mal abgesehen –, besteht weiterhin. Damals waren die Gefahren viel größer, das schon, ebendeshalb aber auch einfacher zu erkennen. Heutzutage rücken sie mehr im verborgenen vor, unermüdlich wie Ameisen, weshalb man um so aufmerksamer und um nichts weniger unermüdlich bei der Sache sein muß.
»Lesen Sie in der Geschichte, María Teresa. Nirgendwo sonst kann man soviel lernen. Auf jeden gewonnenen Krieg folgt eine Zeit der Verfolgung, dann gilt es, die letzten Widerstandsnester des Verlierers aufzuspüren. Freischärler, Himmelfahrtskommandos, Leute, die jede Hoffnung aufgegeben haben. Es kommt einem eher wie ein großes Saubermachen vor – das ist doch kein Kampf mehr! Aber Vorsicht: Das gehört alles mit zum Krieg.«
María Teresa folgt Herrn Biasuttos Ausführungen mit glühendem Eifer, wie eine Schülerin, auch wenn sie sich darüber im klaren ist, daß sie nicht alles versteht, was er sagt. Und obwohl sie ganz in seine Erklärungen versunken ist, merkt sie doch plötzlich, daß sich um sie herum irgend etwas verändert hat. Es ist schon spät, jetzt wird es ihr bewußt, noch bevor sie auf ihre Damenarmbanduhr gesehen hat, die ihr so schön locker ums Handgelenk sitzt. Zudem ist sie inzwischen die einzige Frau an diesem Ort. Außer ihr sind da noch Herr Biasutto, der Geschäftsführer, der die Münzen in der Kasse nachzählt, zwei Kellner, die eigentlich nichts mehr zu tun haben, ein älterer Mann, der die zusammengedrückten Überreste eines Sandwichs anstarrt, der nicht mehr existiert, jemand, der ein Buch von Alistair MacLean liest und sich nicht darum schert, daß darüber sein Kaffee kalt wird, ein Teetrinker, der sich dem Ritual der Zubereitung dieses Getränkesverpflichtet fühlt, zwei Schnapstrinker, die an der Theke die Ellbogen aufgestützt haben.
»Herr Biasutto, für mich ist es schon ein bißchen spät.«
»Das mag sein, aber Sie sagen ja immer noch Herrn Biasutto zu mir.«
»Carlos?«
»Carlos.«
»Carlos, für mich ist es schon ein bißchen spät. Aber eins möchte ich Ihnen noch sagen.«
»Ach ja? Da bin ich aber gespannt.«
»Bei mir zu Hause heiße ich nicht María Teresa.«
»Ach so?«
»Nein.«
»Und wie heißen Sie dann?«
»Ich heiße. Ich heiße. Ich heiße Marita.«
»Marita?«
»Ja.«
»Das ist aber schön!«
»Ja?«
»Aber ja! Und weg mit dem Portemonnaie da, Marita, weg damit, und zwar sofort. Bitte lassen Sie mich Sie einladen. Und erlauben Sie, daß ich Sie nach Hause bringe.«
María Teresa weiß, daß sie wieder rot geworden ist, und jetzt verschanzt sie sich hinter ihrer Gesichtsfarbe.
»Vielen Dank für die Einladung. Aber das andere lassen wir lieber für das nächste Mal.«
»Alles zu seiner Zeit, was, Marita?«
María Teresa lächelt.
»Ja, alles zu seiner Zeit.«
An der Ecke verabschieden sie sich. Vielleicht liegt es daran, daß sie jetzt unter freiem Himmel sind, jedenfallsfallen das Aufwiedersehensagen und der Austausch der dazugehörigen Artigkeiten eher kurz aus. Herr Biasutto scheint nach den passenden Worten zu suchen, er wird aber nicht fündig. Dafür wird er jetzt unruhig, als fürchtete er, seinen Zug zu verpassen, könnte sich aber nicht dazu durchringen, einfach loszurennen, zum Bahnhof, da er dann womöglich nicht nur den Zug verpassen, sondern obendrein noch eine schlechte Figur machen würde. Schließlich beugt er sich vor, María Teresa entgegen, fast als wollte er einen Diener machen. Er legt ihre Hand in seine, seine Finger tragen jetzt ihre Finger. Und dann drückt er einen Kuß darauf, sie spürt das Schnurrbartpieksen.
»Bis morgen, Marita.«
Verwirrt kehrt María
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