Sittenlehre
Teresa nach Hause zurück. Sie ist seltsam erregt: Sie hat es gewagt, sich mit einem Mann wie Herrn Biasutto zu treffen. Ein rundum gebildeter Herr, wie ihre Mutter es bezeichnen würde. Ein erfahrener, mutiger, höflicher, gut erzogener Mann von Welt. Was ihre Begeisterung trübt, ist dagegen der Gedanke, seinerseits müsse er sie höchstwahrscheinlich ziemlich uninteressant gefunden haben. Vielleicht hätte sie ihm erzählen sollen, daß sie als Kind eine Zeitlang Klavierunterricht gehabt hat, oder noch mehr über ihr Buch mit den weisen Sprüchen reden, das gefiel ihm ja offenbar. Vor allem hätte sie nicht ständig rot werden dürfen – obwohl man dagegen natürlich nichts machen kann – und ihn erst recht nicht derart mit Fragen über seine Arbeit bedrängen, denn das hat ihn ganz offensichtlich verärgert. Der Gedanke quält sie, Herr Biasutto könne nach dieser ersten Erfahrung kein Interesse mehr verspüren, ihre Beziehung fortzusetzen.
Natürlich hat er auch angeboten, sie nach Hause zu bringen – sie hat das abgelehnt. Vielleicht hat er es nur aus Höflichkeit gesagt, schließlich war es bereits dunkel, und sie ist eine Frau. Andererseits hat er ihr zum Abschied die Hand geküßt, so was machen sonst nur Prinzen, und das zeigt ja wohl sehr deutlich ein Interesse, ihr den Hof zu machen. Er hat seine Lippen auf ihren Handrücken gedrückt; was sie gespürt hat, war allerdings nicht sein Mund, sondern sein stachliger Schnurrbart. Der Schnurrbart wiederum ruft ihr einen Fußballspieler ins Gedächtnis, Ángel Labruna, glaubt sie, oder auch einen Tangosänger, Goyeneche, glaubt sie (diese Männer hat sie als Kind durch die Vorlieben ihres Vaters kennengelernt, er war Anhänger von River Plate und begeisterter Hörer des Orchesters von Aníbal Troilo).
Wird sie erneut die Gelegenheit haben, sich in dieser Weise mit Herrn Biasutto zu unterhalten, nur sie zwei allein und ohne Hast? Sie möchte es gern glauben. Heute hat sie erfahren, daß er Carlos heißt, Carlos, wie Gardel, ein überaus männlicher Name. Im Gegenzug hat sie ihm ihr Geheimnis verraten: Zu Hause nennt man sie Marita. Das zu hören hat ihm offenbar sehr gefallen, und er hat sie von da an ja auch nur noch mit diesem Namen angesprochen (sie dagegen war so nervös oder verwirrt, daß sie ihn irrtümlich wieder mit Herr Biasutto angeredet hat, obwohl er sie darum gebeten hatte, das künftig zu unterlassen). Sich vertraulich darauf einzulassen, sie Marita zu nennen, und ihr im Gegenzug vertrauensvoll zuzugestehen, ihn Carlos zu nennen, um es anschließend nie wieder zu einem Treffen wie an diesem Nachmittag kommen zu lassen – das wäre doch komisch. Es wäre komisch, aber durchaus möglich – falls Herr Biasutto sich nämlichin ihrer Gesellschaft gelangweilt oder ihr mehr Mut zugetraut hätte, als sie schließlich an den Tag legte.
Sie kommt spät nach Hause und schuldet ihrer Mutter wohl eine Erklärung, so schätzt sie es jedenfalls ein. Sie wird ihr die Wahrheit sagen. Sie hat sich in einem Café in der Nähe des Colegio mit einem Mann getroffen. Was für ein Mann das war, wird sie aber gleich dazusagen: ein außergewöhnlicher Mann. Zudem ihr Chef. Das mit den Listen wird sie nicht erzählen, das wird die Mutter vielleicht nicht richtig einschätzen können. Sie wird ihr aber sagen, daß er im Colegio nahezu Heldenstatus genießt (ein bescheidener Held, so wie einst José de San Martín). Sie kann sich genau vorstellen, wie das Gespräch mit der Mutter ablaufen wird. Sie wird interessiert zuhören und gelegentlich Zustimmung bekunden, dabei aber nicht vergessen, ihr Ratschläge zu erteilen und sie zur Vorsicht zu ermahnen. Doch es kommt anders als erwartet. Als sie zu Hause eintrifft, hat gerade Francisco aus Comodoro Rivadavia angerufen. Wieso kommt sie so spät, nun war sie nicht da, als er angerufen hat. Die Mutter hat mit ihm gesprochen. Sie ist viel zu aufgeregt, um genau zu erinnern, geschweige denn wiedergeben zu können, worüber sie im einzelnen geredet haben. Francisco hat ihr erklärt – als hielte er ihr eine Landkarte vor die Augen –, wo genau er sich gerade befindet. Tief im Süden! Weiter südlich als Bahía Blanca, wo er vorher war – das gehört ja noch zur Provinz Buenos Aires; weiter südlich auch als Viedma, wo die Provinz Buenos Aires endet. Sogar noch weiter südlich als Trelew – an diesen Namen erinnert sie sich, dort haben vor mehreren Jahren einmal ein paar Terroristen versucht, der Justiz zu entkommen, aber
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